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Die Rollen sind los

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Natürlich, auch ich war Rollenspieler. Wie alle anderen Menschen. Ich war eingepfercht in eine Aufgabenverteilung. Donnerstags musste ich so tun, als wäre ich beschäftigt, während ich und meine Kollegen und Innen, erschöpft vom Vortag, eigentlich hauptsächlich da saßen und die Luft beobachteten. Freitags musste ich so tun, als hätte ich einen Plan. Montag und Dienstag musste ich diesen Plan, den ich in der Regel gar nicht hatte, umsetzen. Und Mittwoch musste ich liefern. Bis spätestens 19:30 Uhr, meistens jedenfalls, musste alles vorliegen, wovon in Ansätzen egomanisch veranlagte Chefs glaubten, dass ich es seit Donnerstag Morgen der Vorwoche in Arbeit hatte. Fixfertig, blankpoliert, konfektioniert und bereit zur Weiterleitung. Als ich dachte, jetzt aber bald Hilfe in dieser sinnlosen Tretmühle zu benötigen, reichte es mir. Ich vertschüsste mich aus diesem verkrampften Rollenspiel und dampfte ab.

Plötzlich war ich rollenfrei, auf den ersten Blick zumindest.

Denn als meine neue Rolle stellte sich bald die Aufgabe heraus, Existenzängste zu administrieren und darum zu kämpfen, als Einpesonenunternehmen Aufträge zu erhalten. Hatte ich einen, musste ich wieder liefern, doch immerhin – ohne Schauspielerei. Ich musste lediglich, für den Fall dass jemand zwischendurch nachfragte, sagen: Ja, ist in Arbeit, wird rechtzeitig fertig. Und dann natürlich tatsächlich rechtzeitig fertig werden. Weil ich immer rechtzeitig fertig wurde, vertrauten die diversen Auftraggeber mir bald die Rolle des Verlässlichen an. Die Aufträge wurden diffiziler und schwerer rechtzeitig fertigzustellen. Tendenziell führte mich das alles in Richtung Zitrone, also in Richtung Auspressen, in manchen Fällen zu beschämenden Konditionen. Das gefiel mir weniger. Bevor ich Hilfe benötigte, vertschüsste ich mich auch aus diesem Rollenspiel.

Jetzt war ich wirklich rollenfrei.

Dachte ich jedenfalls. Seit beinahe zwei Jahren schon erwartet beruflich kaum mehr jemand etwas von mir, obwohl ich das, was ich nach wie vor anbiete, ziemlich gut kann. Doch die Bühne rund um uns alle ändert sich und damit die Rahmenbedingungen, die Welt gerät zunehmend in Unordnung – schlag nach bei Covid, bei Trump, bei ChatGPT und so weiter. Als unabhängiger Journalist balanciert man durch prekäre Umfelder und ist weitgehend wehrloses Freiwild für Einsparer in Verlags- und Redaktionsleitungen, in Kommunikationsabteilungen von Unternehmen und so weiter. Also gehe ich in meiner einzig verbliebenen Rolle auf – in der, darüber nachzudenken, wie ich mich neu sortieren könnte.

Privat? Mein Kind: längst erwachsen, im eigenen Leben lebensfähig, im Ausland, braucht nichts von mir, will nichts von mir. Geschwister: nicht vorhanden. Der Vater versorgt, die Mutter längst tot. Partnerin: Ich gönne mir eine Pause bis, naja, wir werden sehen. Freunde: Die wohnen entweder woanders oder wollen nichts von mir, was Druck mit sich bringen würde. In diesem gar nicht unangenehmen Zustand der fast totalen Rollenbefreiung ist mir allerdings vor zwei Jahren ein Baby-Kater zugelaufen – klein, neugierig, er brauchte einen Freund. Der bin jetzt ich. Der Kater wohnt seither bei mir, eine klassische Männer-WG. Zunächst spielte ich diese neue Rolle des Kater-Mitbewohners mit Enthusiasmus. Gleich die erste Aufgabe, einen Namen für ihn zu finden nämlich, erfüllte ich mit Bravour. Es wurde ein guter Name, er interessiert die Leute. Manche fragen: Was, wie? Andere fragen: Aber warum denn das? Einige lachen. Die Tierärztin hatte sogar echte Freude damit: Das ist Schrödinger, stellte sie den Jungkater euphorisiert ihrer Assistentin vor.

Dann merkte ich, ich kann die Rolle des Katerfreundes nicht perfekt ausfüllen. Schrödinger legt auf Dinge wert, die ich als Mensch nicht adäquat liefern kann. Seither heißt meine Rolle: schlechtes Gewissen. Es ist eine Hauptrolle und ich spiele sie oskarreif. Sie nimmt meine Tage gnadenlos in Beschlag. Dem Kater geht es, seit er bei mir wohnt, ausgezeichnet, er ist ganz offensichtlich hochzufrieden. Doch er brauchte eine Gefährtin, die tickt wie er. Also musste eine Katze her, und mittlerweile ist eine Katze da. Die Namensfindung erübrigte sich diesmal, da hatte sich bereits eine Pflegerin aus dem Tierheim verwirklicht. Mir fällt diesbezüglich lediglich die Rolle zu, allen zu versichern, dass ich damit nichts zu tun hatte und statt Céline Dion – die Katze heißt tatsächlich so – nur Lini zu ihr sage.

Jedenfalls, ich fasse zusammen: Ich lebte einen kurzen Zeitraum lang rollenfrei, das war wunderbar. Doch diese Rollenfreiheit führte mich direkt ins Gefängnis einer neuen, allumfassenden Rolle, wie ich sie nie zu spielen beabsichtigt hatte. Finanziell haushalten. Zwei Haustiere versorgen, die ich nie zu haben geplant hatte. Ich, der ich dauernd unterwegs war, kann nicht mehr reisen. Ich, der sein Geld immer für den eigenen Genuss ausgeben konnte, muss für Futter, Ärzte und noch viel mehr für meine beiden – innig geliebten – tierischen Freunde aufkommen. Ich muss sogar als Ghostwriter für Schrödinger herhalten, weil der Kater sich einbildet, ein eigenes Blog im Internet haben zu wollen, aber natürlich nicht schreiben kann. Ich werde wohl aus meiner Wohnung ausziehen müssen, weil die Katzen einen Garten brauchen und böse Nachbarn mich tatsächlich als Schmarotzer beschimpfen – vermutlich weil ich als Mieter mit Schrödinger täglich Spaziergänge im Hinterhof der Wohnungseigentümer  unternehme.

Ich sage es ehrlich: Mir ist ein bissl mulmig. Da draußen fliegen noch so viele seltsame, mir völlig unbekannte Rollen herum – wer weiß, welche von denen sich mir noch ungebeten auf die Schulter setzt oder mir gar auf den Kopf fällt. Ist es womöglich ratsam, sich präventiv zu ducken? Sorge vor der Zukunft zu haben, wäre mir an sich völlig neu und unbekannt – doch ich bemerke erstaunt: Verstohlen beginnt sie, sich anzuschleichen.

Jedenfalls, die Rollen sind los, schwirren wild um uns alle herum, und mir gehen langsam die Verstecke aus. Und sonst auch noch so einiges. Die einzige Rolle, die ich gerne spielen würde – und sie auch voll ausfüllen könnte: Für Sie zu schreiben, Texte aller Art. Fragen Sie an, beauftragen Sie mich (wenn Sie mehr wissen wollen, klicken Sie einfach hierher). +++