Auch wenn der Finanzminister gerne das Gegenteil behauptet: Die kalte Progression wurde de facto nicht zur Gänze, sondern nur zu zwei Dritteln abgeschafft. Das letzte Drittel wird jeden Sommer von der Regierung verteilt. Wie stark die kalte Progression noch immer an den Finanzen der Bürger knabbert, zeigt eine Berechnung des der Industrie nahestehenden Think Tanks “Agenda Austria”: Würden die aktuellen Tarifstufen mit der Inflation steigen, hätte ein Arbeitnehmer mit einem Bruttomonatslohn von 4.000 Euro im kommenden Jahr insgesamt 94 Euro mehr. Wären alle Steuergrenzen seit 2023 jährlich tatsächlich mit der Inflation gewachsen, hätte dieselbe Person 212 Euro mehr am Konto. Die Differenz ist die Kalte Progression, die sich der Staat noch immer einbehält – auch wenn er das Gegenteil behauptet.
In Summe beträgt das „variable Drittel“ im heurigen Jahr immerhin rund 650 Millionen Euro. Was damit geschieht? Wonach auch immer der Regierung der Sinn steht: Kilometergeld für Fahrradfahrer mag vielleicht ein hehres Anliegen sein, hat mit der kalten Progression aber nichts zu tun. „Die Regierung gönnt sich mit dem variablen Drittel jedes Jahr ein politisches Schauspiel, um nach Gutsherrenart die Millionen zu verteilen“, sagt Agenda Austria-Ökonom Dénes Kucsera.
In einem Wahljahr wie heuer nützen die Regierungsparteien diese Chance natürlich zum Austeilen von Wahlzuckerln. Anders gesagt: Man gibt dem Wahlvolk gönnerhaft einen Teil des Geldes zurück, das man ihm zuvor in mehr oder weniger hinterfragenswerter Manier abgeknöpft hat. Und hofft, die Wähler merken diesen kleinen, charmanten Kunstkniff nicht. Will man es positiv sehen, kann man sich aber dieses Jahr darüber freuen, dass vom letzten Drittel der Steuereinnahmen aus der Kalten Progression das Meiste tatsächlich an die Steuerzahler retourniert wird. Und zum Teil sogar in sinnvoller Weise: Die Regierung finanziert damit zum Beispiel die Anhebung der Umsatz-Pauschalierungsgrenze für Kleinunternehmen von 35.000 auf 55.000 Euro. Das ist längst überfällig und natürlich immer noch zu niedrig, aber immerhin. Es ist vor allem ein wesentlicher, wenn auch nur kleiner Schritt der Entbürokratisierung. Man befreit damit die Kleinsten, die unter der desaströsen Wirtschaftspolitik der aktuellen Regierung am meisten zu leiden haben – Stichwort Coronahilfen – wenigstens von der bürokratischen Last einer sinnlos komplexen Buchhaltung und, falls sie das wollen, auch des mühsamen österreichischen Vorsteuersystems.
In einem Wahljahr ist also sogar die aktuelle Regierung in der Lage, mit Steuergeld, das sie in Raubrittermanier den Bürgerinnen und Bürgern abgeknöpft hat, nicht verschwenderisch, sondern sinnstiftend zu agieren. Wägt man das gegen den vielen Unfug ab, der in den vergangenen knapp fünf Jahren mit Steuergeld getrieben wurde, ist das allerdings nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Und natürlich lassen die Regierungsparteien so knapp vor einer Nationalratswahl Wahl keine Möglichkeit aus, kräftig Propaganda in eigener Sache zu machen. Das kann dann auch schon einmal in Schaumschlägerei ausarten: Soeben ließ man den Pressedienst der Parlamentsdirektion verkünden, dass den Österreichern und Österreicherinnen exakt 1,98 Milliarden Euro mehr durch die Abschaffung der Kalten Progression im Börserl bleiben würden. Doch es gibt welche, die anders rechnen – siehe eingangs … +++