800 Milliarden Euro wollen die EU-Staaten in den nächsten Jahren in ihre militärische Kapazität investieren. Immerhin warnen etliche europäische Geheimdienste, dass Putins Gelüste nicht auf ukrainischem Staatsgebiet enden könnten. Der in Berlin tätige Militärexperte Gustav Gressel beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass Putin nach der Ukraine ab 2026 ein EU-Land angreifen wird, mit 80 Prozent.
Daher haben sich 26 der 27 Regierungschefs bei einem Gipfel in Brüssel geeinigt, selbst massiv aufzurüsten, denn auf Donald Trumps NATO-Beistandspflicht möchte man sich nicht mehr verlassen. Zum ersten Mal am Gipfel mit dabei war Österreichs Bundeskanzler Christian Stocker. Interessant zu wissen wäre, wie gut er sein eigenes Regierungsprogramm gelesen hat. Dort findet sich nämlich im Kapitel „Österreich und die Welt“ der zentrale Satz: „Österreich bleibt Vorreiter in der Abrüstung“.
Jetzt weiß man nicht genau, wo die für diese Passage verantwortlichen Damen und Herren die letzten Wochen und Monate verbracht haben, aber offensichtlich irgendwo ohne Zugang zu Medien und Internet. Ob Österreich nun tatsächlich „vorreiten“ wird, weiß man nicht. Klar ist jedenfalls, dass niemand nachreiten wird. Und der neu gekürte Bundeskanzler hat bereits am Gipfel gegen sein eigenes Regierungsprogramm verstoßen, denn die eine fehlende Stimme stammte natürlich von Viktor Orban, der bekanntlich in der EU gegen alles stimmt, das nicht einen Geldtransfer nach Budapest beinhaltet.
Das österreichische Regierungsprogramm ist aber auch sonst beim Thema Landesverteidigung nicht frei von Widersprüchen. Da findet sich das Vorhaben „Attraktivierung des Grundwehrdienstes“, um mehr junge Männer zum Heer statt zum Zivildienst zu bringen. Aus dem Blickwinkel der Landesverteidigung macht das also durchaus Sinn, sogar ein „Grundwehrdienstbeauftragter“ soll eingesetzt werden. Weiter hinten liest man allerdings „Attraktivierung des Zivildienstes“. Ja, was jetzt? Lieber mehr Soldaten oder mehr Altenbetreuer? Das Klonen ist in Österreich verboten, also kann aus jedem jungen Mann nur entweder ein Wehr- oder ein Zivildiener werden. Gab es wirklich niemanden, der vor Veröffentlichung das gesamte Regierungsprogramm einmal sinnerfassend las?
„Hinter dem blickdichten Paravent der österreichischen Neutralität legten sich die Verhandlungsteams eine Parallelwelt zurecht und schrieben ein Regierungsprogramm, das von großer Entschlossenheit zur Fortsetzung des Status quo geprägt ist“, schrieb Außenpolitikexperte Stefan Lehne vor ein paar Tagen in der „Presse“. Leider fügt sich aber die restliche Weltpolitik nicht in das heimische Wunschdenken ein.
Da sind viele Österreicher bereits realitätsnäher. In einer OGM-Umfrage sagten bereits 41 Prozent der Befragten, dass Österreich aufgrund der weltpolitischen Veränderungen die Neutralität verändern oder aufgeben müsse. Jene 57 Prozent, die weiter daran festhalten wollen, kommen vor allem aus FPÖ- und abgeschwächt ÖVP-Wählerkreisen. Riho Terras, langjähriger Kommandant der Streitkräfte Estlands und nun im Verteidigungsausschuss des EU-Parlaments, ging da kürzlich im „Kurier“ noch weiter: „In der heutigen Situation ist es für ein EU-Mitgliedsland nicht möglich, neutral zu sein. Das ist moralisch nicht vertretbar.“ Manchmal ist es durchaus hilfreich, wenn eine Außensicht hinter den „blickdichten Paravent“ des eigenen Wunschdenkens dringt. +++