Vier bis fünf Tage lang dauerte diese Rede Karl Nehammers. Zumindest für die Medienkonsumenten, die bereits vor dem eigentlichen Nehammer-Auftritt in Wels häppchenweise gefüttert wurden. Und brav machten alle vom ORF bis zu den Qualitätszeitungen mit, bis auch allen Interessierten klar war, dass die ÖVP unter Karl Nehammer künftig für Tradition, Familie, Leistung und Sicherheit, aber nicht für das Binnen-I stehen will. Die Überraschung war sicher groß. Das Papier folgt hauptsächlich der Kurz-Strategie: Positionen der FPÖ übernehmen, aber so servieren, dass das konservative Bürgertum noch mit Messer und Gabel essen kann.
Inhaltlich steht schon einiges Sinnvolles in diesem mehr als 80 Seiten umfassenden „Österreich-Plan“: Etwa das Senken zweier Tarifstufen in der Lohnsteuer oder die Absicht, die exorbitant hohen Lohnnebenkosten pro Jahr um 0,5 Prozentpunkte abzubauen. Ein degressives Arbeitslosengeld hat die Volkspartei bei diesem Koalitionspartner nicht durchgebracht; ein richtiges Vorhaben bleibt es dennoch.
Ein paar Mal beweist die ÖVP auch einen feinen Sinn für Selbstironie, etwa wenn ihr Obmann einen „Regimewechsel in der Wirtschaftspolitik“ fordert. Der letzte Wirtschaftsminister, der einer anderen Partei angehörte, hieß Norbert Steger und amtierte bis zum Jänner 1987. Damals schob man noch 8-Zoll-Disketten in die ersten Personal Computer und einige wohlhabenden Pioniere konnten mit ihren neuen, ein Kilo schweren Mobiltelefonen die anderen 2499 Teilnehmer im C-Netz der staatlichen Post- und Telegraphenverwaltung anrufen. Seither bestimmt wieder die Volkspartei im Haus am Stubenring.
Zwei fundamentale Probleme weist dieses Wahlkampfpapier aber auf – egal wie man inhaltlich zu einzelnen Positionen stehen mag. Auf 31,3 Mrd. Euro beziffert der wirtschaftsnahe Thinktank „Agenda Austria“ die Kosten innerhalb der nächsten sechs Jahre, andere erste Schätzungen liegen noch höher. Zur Gegenfinanzierung steht aber exakt nichts auf den 82 Seiten, obwohl das Budgetdefizit derzeit schon 2,7 Prozent beträgt. Darauf angesprochen schwurbelte der Bundeskanzler in bester Ronald-Reagan-Manier irgendwas von Selbstfinanzierung durch damit ausgelöstes Wirtschaftswachstum. Im günstigeren Fall ja eh, aber niemals mehr als die Hälfte, eher im Bereich eines Viertels der Kosten.
Und vor allem stellt Karl Nehammer für seine Partei und die Wählerschaft zwei Positionen auf, die sich klar widersprechen: Diesen Plan für Österreich kann er inhaltlich problemlos in einer Koalition mit der FPÖ umsetzen. Das Regierungsprogramm wäre vermutlich an einem Abend geschrieben; der Sideletter für die Postenbesetzungen bräuchte wohl länger.
Aber mit der „Kickl-FPÖ“ will der ÖVP-Obmann sicher nicht koalieren, wie er nochmals versicherte. Eine andere FPÖ wird es allerdings auch nach der Nationalratswahl nicht geben. Und mit der „Babler-SPÖ“ plus Grüne und/oder Neos kann er diese Positionen zum größeren Teil gleich wieder dorthin verfrachten, wo seine groß inszenierte Rede aus dem März 2023 zu „Österreich 2030“ ruht, nämlich zu den abgeschalteten Websites.
Und so eröffnete die ÖVP dialektisch und teilweise im Dialekt endgültig den Wahlkampf und richtete dem Koalitionspartner mittels Bekenntnisses zum Verbrennermotor und der Forderung nach zusätzlichen 20 Milliarden für den Straßenbau aus, wohin er sich die Zusammenarbeit in den nächsten acht Monaten stecken könnte.
Egal, wie die Wahl ausgehen wird: Die Volkspartei wird mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder Teil der Regierung sein. Die Frage ist nur, ob sie weiter den Kanzler stellen kann oder sich mit „Volkskanzler“ Kickl abfinden muss. In jedem Fall wird sie eines der fundamentalen Versprechen für ihre Wähler brechen müssen. +++