Start Schrödinger Ein Namensvetter taucht auf

Ein Namensvetter taucht auf

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Erzähl mir mehr, Mitbewohner!, miaute Schrödinger.

Und legte tatsächlich eine Pause bei der Umsetzung seines wichtigsten Projektes ein, nämlich der gründlichen Verwüstung der Mitbewohner-Wohnung, dem Anrichten von größtmöglichem Chaos auf kleinstmöglichem Raum in kürzest möglicher Zeit.

An sich ließ er sich von seinem Projekt so gut wie nie ablenken. Zielstrebig, Schritt für Schritt, arbeitete er auf die finale Fertigstellung hin. Doch das, das ließ ihn nun sofort aufhorchen und innehalten. Der Mitbewohner hatte nämlich angedeutet – Schrödinger befand sich gerade unter dem Wäscheständer in der Küche und dachte angestrengt nach, wie man die zum Trocknen aufgehängte Wäsche am besten ins große Zerstörungswerk einbinden könnte –, er habe von einer von Schrödis WhatsApp-Freundinnen erfahren: Irgendwo in Schottland lebe ein Kater, der ebenfalls Schrödinger hieß. Ein Namensvetter? Schrödi wunderte sich sehr. Sollte es tatsächlich einen noch einen Schrödinger geben? Das interessiert den Jungkater natürlich sehr.

Helma, erzählte der Mitbewohner nun weiter, war mit ihrem Mann Wolfgang auf Urlaub in Schottland, vermutlich Golf spielen, die zwei kennen sich da ziemlich gut aus.

Miaaaau!, antwortete Schrödinger gedehnt und gähnte.

Golf? Was ging das ihn an. Mehr war da nicht? Womöglich einfach doch nur ein Caddie, der Schrödinger hieß und behauptete, er sei ein Kater? Für Schottland zwar ungewöhnlich, aber dennoch: langweilig.

Jetzt hör erst einmal zu, sagte der Mitbewohner, dem die Ungeduld seines kleinen Katers nicht unbekannt war.

Also, Helma und Wolfgang waren mit ihren Freunden Christine und Hector zum Mittagessen in der Banchory Lodge, erzählte der Mitbewohner weiter. Ich war da selbst auch schon einmal, die liegt wunderschön direkt an einem Fluss namens Dee, und dort kann man sehr gut Essen. Danach war Helma im Buchladen in Banchory, weil sie eine Straßenkarte kaufen wollte.

Ihr Menschen, miaute Schrödinger und unterbrach den Mitbewohner schon wieder, für alles wollt ihr immer eine Karte, macht es doch wie wir Katzen und geht einfach querfeldein!

Die fettesten Mäuse fängst du in der Wiese, nicht am Asphalt, lautet ein altes Katzensprichwort, schnurrte er und es klang nach einem sehr, sehr spöttischen Katerschnurren.

Der Mitbewohner negierte diesen Einwand. Schrödinger, der noch nie in seinem Jungkaterleben eine Maus gefangen hatte, mutierte langsam zum Aufschneider. Manchmal zum Beispiel, wenn er dem Mitbewohner seine spitzen Eckzähne präsentierte und dazu schnurrte, als wäre er ein brüllender Löwe, musste der Mitbewohner immer ziemlich lachen. Er erzählte weiter.

Jedenfalls, der Buchladen führte keine Landkarte. Fast schon wieder im Gehen, sah Helma neben der Kasse zwei Bücher liegen, auf jedem von ihnen befand sich eine Katze am Einband. Die Buchhändlerin erkannte das Interesse der Urlauberin, freute sich schon auf ein gutes Geschäft, und empfahl ihr die beiden Bücher.

Komm endlich zur Sache!, miaute Schrödinger ungehalten.

Dass der Mitbewohner aber auch immer so herumschwafeln musste, wo ihm doch klar war, dass Schrödinger Informationen kurz, bündig und klar bevorzugte. Außer natürlich, es ging um Schinken. Oder um Hühnerfleisch. Da war ihm jedes Detail recht.

Kurz und gut, fuhr der Mitbewohner endlich fort, Helma und die Buchhändlerin kamen ins Gespräch über Katzen. Und was glaubst du, was Helma, die wirklich ein seeeehr großer Fan von dir ist, mein lieber Schrödi, getan hat?, fragte der Mitbewohner und dehnte das Wort “sehr” beinahe ins Unendliche, um die Spannung zu steigern.

Waaaaaas?, miaaaaute Schrödinger und imitierte die Sprechweise des Mitbewohners, weil er sich ein klein wenig über dessen Versuch lustig machen wollte, die Geschichte für ihn, Schrödinger, spannender zu machen.

Sie hat ihm ein Foto von dir gezeigt!, sagte der Mitbewohner jetzt triumphierend, und Schrödinger, der durchaus ein wenig eitel war, war plötzlich voll bei der Sache.

Von mir, ehrlich? miaute er, und ein kleines, feines Katzengrinsen entwischte seinem Jungkatermaul.

Hätte Schrödinger nicht so ein langes, dichtes Fell besessen, der Mitbewohner hätte zwei kleine rötliche Flecken auf Schrödingers Wangen links und rechts vom Maul erkennen können. So geschmeichelt fühlte sich der kleine Kater.

Helma ist eben ein wirklich großer Fan von dir, stell dir vor, sie fliegt zweitausend Kilometer oder so und hat auf ihrem Handy ein Foto von dir mit dabei!

Schrödinger konnte sich unter der Entfernungsangabe “zweitausend Kilometer” natürlich nichts vorstellen, für ihn war entscheidend, wie weit es vom Schlafplatz neben den Füßen im Bett des Mitbewohners in die Küche und von dort zum Restaurantbereich im Erdgeschoß seines Wohnturmes war, und wie schnell der Mitbewohner diese Strecke zurücklegen konnte. Wenn Schrödinger am Morgen aufwachte, hatte er nämlich naturgemäß großen Hunger und Zeit war kostbar. Andere Distanzen interessierten ihn nicht.

Und jetzt stell dir noch vor! Die Buchhändlerin erzählte Helma, sie habe ihrendwo im Laden ein Buch von einem schottischen Schriftsteller vorrätig, der promovierter Physiker und auch gelernter Journalist sei, einen Krimi nämlich, in dem auch eine
Katze namens Schrödinger vorkommt!

Der Mitbewohner war richtig stolz, seinem Schrödi diese Information präsentieren zu können, und er dankte Helma insgeheim, die er von früher noch gut kannte, als er in halb Europa unterwegs war, um über Golfplätze und Hotels zu schreiben, die von Helmas PR-Agentur vertreten wurden, insgeheim sehr für diesen Hinweis.

Die Buchhändlerin wusste sogar, wer Schrödinger war! Also, der originale Schrödinger, dein Namensgeber, der Quantenphysiker, freute sich der Mitbewohner.

Jetzt war Schrödinger hellwach und fühlte, wie Begeisterung sich von unten in seinem Bäuchlein, wo bisher alles immer nur “Schinken, mehr Schinken! gerufen hatte, hinauf ins Katzenhirn schlich.

Es gibt einen zweiten Schrödinger, einen Kater wie du!, miauten die Synapsen seines noch jungen Katerhirns begeistert in die ebenso jungen, kleinen Katerohren.

Schrödinger war außer sich, so hatte er sich schon lange nicht mehr gefreut. Er machte zuerst einen Buckel, dann drehte er eine Pirouette um sich selbst, dann noch eine in die andere Richtung, dann biss er den Mitbewohner vor Begeisterung einmal kräftig in die große Zehe des rechten Fußes, jagte eine Staniolkugel durch die ganze Wohnung, warf den Blumentopf mit dem Katzengras um, sauste zum Mitbewohner zurück, setzte sich vor dessen Füße und miaute:

Miiiaaaauuuu! Miau, miiiiauu. Miau!

Der Mitbewohner verstand ausnahmsweise sofort: Schrödi wollte, dass der Mitbewohner dieses Buch besorgte, den Krimi las und Schrödinger erzählte, was sein Namensvetter darin so alles anstellte. Der Mitbewohner grinste verschmitzt.

Kannst du dich erinnern, Schrödi?, fragte er, als es vorgestern so heftig an der Wohnungstüre geläutet und dann der DHL-Bote dieses kleine Packerl abgegeben hat, dass du unbedingt gleich zerkratzen wolltest?

Na logisch!, miaute Schrödinger zurück.

Klar wusste Schrödinger das noch. Das Paket hatte sich einfach nicht zerstören lassen, so fest war die Pappe gewesen. Auch wenn es ihn immer noch sehr ärgerte, Schrödinger hatte nach minutenlangen Versuchen ergebnislos aufgeben müssen und sich wieder der Ledercouch des Mitbewohner gewidmet, die seinen Krallen deutlich weniger Widerstand entgegenzusetzen in der Lage war. Dieses widerspenstige Paket würde er keinesfalls so schnell vergessen können. Er hatte sich sogar vorgenommen, mehr zu trainieren, damit er das nächste Mal …

Der Mitbewohner hatte das an den plötzlich inflationär auftauchenden neuen Kratzspuren an einem seiner beiden roten Lederfauteauils nachvollziehen können. Aber er hatte geschwiegen und seinem Schrödinger diesen zusätzlichen Kratz-Enthusiasmus verziehen. Einerseits, weil er Schrödinger so lieb hatte, dass der sich fast alles erlauben durfte. Und andererseits, weil die beiden Fauteuils vier Monate, nachdem Schrödinger eingezogen war, ohnehin praktisch hinüber waren. Der Mitbewohner hatte die roten Ledersessel schon aufgegeben und sich entschlossen, die ganze Aufmerksamkeit künftig der Unversehrtheit der Ledercouch zu widmen, was sich allerdings, wie er fürchtete, ohnehin schnell als nicht zu bewältigende Herausforderung entpuppte.

Schau her, Schrödi, sagte der Mitbewohner jetzt, griff in eine Schublade unter seinem Schreibtisch – und holte exakt jenes Paket heraus, das Schrödinger zwei Tage zuvor nicht vernichten hatte können.

Der Mitbewohner riss eine seitliche Lasche auf (Schrödinger ärgerte sich insgeheim grün und blau, dass er die nicht bemerkt hatte), und zog ein grünlich schimmerndes Taschenbuch hervor.

Tadaaaa!, sagte der Mitbewohner, ich hab’s dir schon besorgt, das Buch – hier ist es! Das Buch mit dem Kater Schrödinger drin.

Das Buch hieß “Dark Matter” und war von einem gewissen Doug Johnstone geschrieben. Der Name sagte Schrödinger nichts, aber er miaute los ohne Ende und dem Mitbewohner war klar, Schrödi wollte ihm damit signalisieren, er solle gefälligst sofort mit dem Vorlesen beginnen.

Na gut, sagte der Mitbewohner, setzte sich in den zerkratzteren der beiden roten Ledersessel, schlug die Beine übereinander, öffnete das Buch, blätterte ein wenig darin, was Schrödinger mit ungeduldigem Miauen missbilligte, holte schließlich tief Luft und begann laut zu lesen:

… Schrödinger was a ginger tabby with the wiry body of a street cat and a supreme air of confidence. The name was Hannah’s idea and it stuck. As he got closer, Jenny saw something in his mouth.

Schrödinger war begeistert, sein kleines Maul hielt er leicht geöffnet. Vor Spannung schnurrte er wild drauflos, als wäre er ein alter Traktor oder eine volltrunkene Hummel. Er sprang auf den Schoß des Mitbewohners, der sich darüber freute und Schrödinger mit großer Zärtlichkeit hinter den Ohren kraulte.

Schrödinger schnurrte gleich noch lauter. Sein buschiger Schwanz stand steil nach oben gerichtet, bei Schrödinger war das immer ein Zeichen, dass er sich freute. Er konnte es nicht erwarten zu erfahren, was sein Namensvetter, dieser schottische Schrödinger, in seinem Maul hatte.

Miau, miauuu!, miaute er, weiter, weeeiiiter! +++