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Die türkische Reise

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Das Bundesland Salzburg verleiht seinen Schnürlregen zeitweise an Oberösterreich und befüllt dann den Mondsee von oben mit ordentlich Frischwasser. Nicht heute – heute überzieht ein bläulicher Herbsthimmel den See.

Aber wenn trüber Wetter und Regen, dann ist es wirklich trüb und regnerisch am See. Nass, Frucht und kalt. Jetzt dann, wenn Allerheiligen naht, wird das wieder kommen, glauben Sie mir.

Doch auch diese Stimmung hat was. Nicht viel zwar, ehrlich gesagt, aber ein bissl was dann doch. Die Wolken hängen tief, aus den Schornsteinen der Häuser kräuselt, obwohl inzwischen Photovoltaik angesagt wäre, Heizungsrauch verspielt nach oben. Der Yachtclub unten, in dem sich sonst wohlhabende Touristen und Salzburger Groß- und Größtbürger mit Protzen und Prahlen in Sachen Segelyachtumfang gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, ist eine menschenleere Wüste geworden. Öde überall. Das Wasser zu kalt, die Luft zu wenig lau, die Umdenmondseeradlstraße zu nass, nichts zu tun.

Also kurz zusammengefasst: Dem Autor ist dann fad.

Also besinne er sich auf das, was er den Teilnehmern und Innen seiner Schreib-Workshops jeweils ganz wichtig verklickert: Storytelling! Das ist nach wie vor schwer im Kommen – und macht man in Kommunikation, muss man das heutzutage einfach draufhaben.

Daher also jetzt – eine Story, und wie es sich bei guten Geschichten gehört, ist sie in der Ich-Form erzählt. Sie heißt: Die türkische Reise und ist so tatsächlich passiert.

Greta Thunberg und all diese Klimaschützer, die plötzlich draufkommen, dass Kurzstreckenfliegen der Umwelt schadet, die kosten mich nur ein nachsichtiges Grinsen. Ich praktizierte das schon vor Jahrzehnten. Zum Beispiel Türkei-Aufenthalt vor gut 35 Jahren im Frühling, die Strecke Izmir-Wien im Flieger? Auf keinen Fall. Natürlich könnten Quengler anmerken, dass das womöglich weniger am Klimabewusstsein und mehr am denkbar schmalen Studentenbörsel lag, aber wir wollen solch Nörgelei nonchalant beiseite schieben. Kein Flugzeug jedenfalls. Ich fuhr mit Bus, Schiff und Zug, war hin und zurück jeweils gute drei Tage unterwegs und erlebte durchaus das eine oder andere Seltsame.

Es begann in Çesme, jenem kleinen Örtchen an der türkischen Ägäisküste, das heute wahrscheinlich eine veritable Touristenhochburg ist, damals aber träge und verschlafen wie eine fette Katze war. Koch Bülant weigerte sich, mir die geborgten tausend Schilling zurückzugeben, die eiserne Reserve meines Reisebudgets. Ich hatte den Mann, der im Winter immer in Wien als Gastarbeiter werkte und im Sommer sein eigenes türkisches Restaurant direkt am Wasser betrieb, im Studentenlokal “Selbstverständlich” vor den Toren der alten WU im neunten Bezirk in Wien kennengelernt, wo Bülant in der Küche Dienst tat. Man war ins Gespräch gekommen und hatte schließlich vereinbart, dass ich ihm ein Monat lang bei der Vorbereitung seines Restaurants in Çesme auf den sommerlichen Gästeansturm wohlhabender Türken aus Izmir gegen Kost und Logis helfen würde.

Bülant hatte seinen winterlichen Wiener Gastarbeiter-Kochlohn in diverse gebrauchte mitteleuropäische Gastronomie-Geräte und einen VW-Bus investiert, für den das Wort Altersschwäche eine fast schon kriminelle Schönfärbung seines tatsächlichen  Zustandes gewesen wäre. Damit wollte er die gewaltige Industriegeschirrspüler-Gastroherd-Kombi, die er Gott weiß wo akquiriert hatte, einen monströsen Kühlschrank, rund 93.000 Töpfe und Pfannen, sich selbst und auch mich per 2500-Kilometer-Teufelsritt aus Österreich in die Türkei exportieren. Er hatte gerade noch genug Bargeld für das Benzin. Für die Unmengen an Marlboro-Zigaretten, die es für das Geschmeidigmachen des allem Anschein nach recht komplexen Grenzübertritt-Procedere von Griechenland in die Türkei – mit einem halben Restaurant hinten drin im Lieferwagen – brauchen würde, fehlte in der Folge das Kapital. Anders formuliert: Bülant fehlte das Geld zum Bestechen der Grenzer mit Marlboros. Er hatte mich daher um den größeren Teil meines Reisebudgets als Kredit gebeten, damit wir überhaupt in die Situation kommen würden, an einen entfernten Ort zu gelangen, von dem aus ich irgendwann dann wieder meine Rückreise antreten könnte.

Grenzkontrolle Türkei, oioioi, nix Marlboro, nix geht sowieso, hatte Bülant in seinem radebrecherischen Türkendeutsch gesagt.

Und ich hatte verstanden: Es würde dem Anschein nach wohl ein wenig – oder vermutlich sogar mehr – Bestechung vonnöten sein, die würde in der Währung Marlboro-Zigaretten zu erfolgen haben würde, deren Anschaffung in größerem Rahmen daher zwingend notwendig war. die Finanzierung würde an mir liegen. Ich ließ den Tausender rüberwachsen.

Ich merke gerade, die Geschichte unserer Dreitagesfahrt von Wien nach Cesme im VW-Bus, in dem streng genommen fast nichts mehr einwandfrei funktionierte und der von gut einer Tonne Wiener Gebrauchtgastronomie zusätzlich ordentlich in die Knie gezwungen wurde, ist wahrscheinlich eine eigene Story. Wölfe spielen darin eine Rolle, ein Muhezin, ein Motorschaden, Marlboros kettenrauchende Grenzbeamte, haufenweise Baklava, eine schöne junge Türkin sowie ihre gesamte männliche Familie und anderes – ich werde Ihnen einmal in einem gesonderten Editors Blog davon berichten.

Jedenfalls, ich hatte, als ich Wochen später wieder nach Hause wollte, mit Bülant schwer um die Rückgabe meiner tausend Schilling zu kämpfen. Hätte ich ihm nicht damit gedroht, mit meinem letzten Hunderter zwei der Dutzenden Arbeitslosen anzuheuern, die in der Hauptstraße von Çesme praktisch ständig in den Cafés herumlungerten und auf Gelegenheitsjobs warteten, und sie dann in finsterer Nacht sein frisch auf Vordermann gebrachtes Lokal am Strand abfackeln zu lassen, ich hätte mein Geld wohl nie wieder gesehen.

Was?, werden Sie nun zu Recht entsetzt aufheulen, der hätte wirklich …, nur um …?

Naja, einerseits: schon.

Ich war zu diesem Zeitpunkt immerhin bereits fünf Wochen in der Türkei, als das Land noch zu den Armenhäusern Europas zählte, in einer Gegend, in der Europäer kaum auftauchten und milde Formen von Blutrache eher den Normalbetrieb darstellten.

Kurz, die Sitten dort waren nicht unrauh.

Da wird man dann selbst schon auch ein wenig räudig, vor allem wenn man noch jung ist. Und ich hatte dieses ins-Dorf-fahren-und-arbeitslose-Einheimische-für-wenig-Geld-zu-schwerer-Arbeit-anheuern schließlich in den vergangenen Wochen während der Restaurantrenovierung oft praktiziert. Bülant selbst hatte es mir beigebracht, die Dorfleute kannten mich schon und freuten sich, wenn sie mich sahen, denn dann gab es meistens Arbeit und ein wenig Geld. Mit Sicherheit hätte ich problemlos zwei, drei Typen gefunden, die skrupellos genug gewesen wären, für jeweils ein bissl Fremdwährung gekonnt zu zündeln.

Andererseits natürlich: eh nicht.

Ich hatte mir nämlich ausgerechnet, dass die bloße Drohung, entsprechend ernst über die Rampe gebracht, Bülant womöglich genug beunruhigen würde, mir mein Geld zurück zu geben. Auch wenn ich damals als Student immer noch sehr der schüchterne Nixgneißer aus dem Gymnasium war, im Bedarfsfall konnte ich trotzdem recht überzeugend rüberkommen. Es dauerte genau eine halbe Stunde und Bülant rückte mit dem Tausender an, von dem er mir zuvor wortreich erklärt hatte, dass er gar nicht mehr vorhanden sei, den er dann aber in der Not einer drohenden Feuersbrunst eben doch ziemlich schnell aus irgendeiner seiner türkischen Küchenladen gezaubert hatte.

Ich war wieder liquid.

Vor mir lagen zwar anstrengende zehn Kilometer Fußmarsch mit schwerem Rucksack, weil Bülant sich nach meiner Geldwiederbeschaffungsaktion weigerte, mich im VW-Bus, den die Schotterwege in und um Çesme noch klappriger werden hatten lassen, zur Anlegestelle der Fähre in den Ort zu fahren.

Anlegestelle deshalb, weil mir der 150-Kilometer-Weg per Bus von Çesme nach Izmir mit 30 oder 40 mitfahrenden Türken, von denen Bülant womöglich 99 Prozent bestochen hatte, mir den Tausender wieder abzunehmen, doch zu riskant schien. Ich hatte mich daher für den Seeweg nach Hause entschieden. Die Route: Fähre-hinüber-nach-Chios und dann Fähre-Chios-Athen und dann Werden-wir-schon-sehen. Zweifellos ein Abenteuer, denn bedenken Sie: Es gab damals weder Internet noch Handys, und sich aus dem türkischen Provinzkaff Çesme, in dem wahrscheinlich insgesamt nicht mehr als zwei oder drei Telefone vorhanden waren, über Zugfahrpläne Athen-Wien schlau zu machen, das war etwas, das meine damaligen Fähigkeiten als Publizistik-Student überstieg. Daher: Erst einmal irgendwie rüber zur griechischen Insel Chios, die man vom Hafen in Çesme aus sogar stumpf am Horizont erkennen konnte, und dann per Linienfähre, die es wohl geben würde, weiter.

Als ich an der Anlegestelle in Çesme ankam, war ich fertig. Zehn Kilometer bei 35 Grad und mit 20 Kilo hinten drauf hatten mich mürbe gemacht. Ich konnte das herzhafte Lachen des erstbesten Türken, den ich nach der Fähre fragte, daher nicht gut deuten. Ich nahm an, er hielt mich einfach für einen Trottel, den irgendein kurioses Schicksal hierher geschwappt hatte, wo blonde Europäer – ja, ich hatte damals noch Haare, recht viele sogar – selten bis gar nie auftauchten. Als der zweite, der dritte, und dann auch noch der vierte Einheimische, den ich fragte, ähnlich reagierten, begann ich nachzudenken.

Nämlich Çesme – Provinznest, null Tourismus. Außerdem türkisches Festland und Chios griechische Insel, wo die Türkei und Griechenland doch wegen der Zypern-Angelegenheit und ihrer ganzen problematischen Geschichte so etwas wie beste Feinde waren.

Warum ich geglaubt hatte, dass es da so etwas wie eine reguläre Fährverbindung geben würde, war mir plötzlich selbst schleierhaft. Das Schild “Yolcu” oder so ähnlich, das ich immer wieder einmal gesehen hatte, wenn ich am Hafen gesessen war, war wohl mehr bloße Angeberei. Außerdem weiß ich heute, dass es in bestimmten Zusammenhängen frei übersetzt nicht nur Passagierschiff oder so ähnlich bedeuten kann, sondern auch Todeskandidat, was mir damals sicher zu denken gegeben hätte.

Wie auch immer, es stellte sich heraus: Yolcu war der Kahn eines alten Türken, der so aussah (der Kahn, nicht der Türke), als wäre Bülants VW-Bus im Vergleich dazu ziemlich gut in Schuss. Außerdem sah er so aus (der Türke jetzt, nicht der Kahn), als wäre er mit seinem schwimmenden Schrotthaufen bereits zehnmal untergegangen und nur deshalb wieder aufgetaucht, weil der türkische Hades lieber nichts mit ihm zu tun haben wollte. Der Käptn des Yolcu okkupierte meinen letzten Hunderter mit großer Freude, gab mir für ungefähr 30 Schilling türkische Lira als Wechselgeld heraus, nahm für die 20-Kilometer-Überfahrt also wahrscheinlich den zehnfachen Gegenwert seines Bootes, und wir stachen in See.

Ich habe den Großteil meiner Erinnerungen an diese Überfahrt verloren, Verdrängung ist ein wirklich wunderbarer Schutzmechanismus des Gehirns. Ich kann Ihnen davon also nur erzählen, dass ich noch weiß, wie ich mir dachte, als die türkische Küste hinter dem Heck ungefähr gleich diffus in der Entfernung schimmerte wie die Insel Chios vor dem Bug, dass Schwimmen womöglich die bessere Lösung gewesen wäre. Und ich weiß auch noch, dass ich nicht nur sehr erstaunt war, als wir tatsächlich in Chios ankamen – sondern auch, dass der Mann direkt den Hafen ansteuerte. Ich hatte schon damit gerechnet, im besten Fall irgendwo außerhalb des Inselhauptortes an Land gespült zu werden und mich auf einen neuerlichen Fußmarsch vorbereitet.

Auf jeden Fall, erste Etappe der Abenteuerfahrt Çesme-Wien, abgehakt. Ich war in Chios auf der Insel Chios.

So etwas wie eine Passkontrolle gab es nicht, trotz aller Feindschaft schienen die Türken und Griechen das damals durchaus, naja, sagen wir: südländisch zu handhaben. Ich war einfach da und allen war es wurscht. Den alten türkischen Käptn sah ich mit seinem Yolcu gefährlich schlingernd in Richtung Horizont retour schwappen, um den Gegenwert von zehn Yolcus reicher, aber ich bezweifle, ob er daraus etwas machen konnte. Ich habe ihn nie wieder gesehen und neige zur Interpretation, dass der Hades ihn dieses Mal, da er ja nun eine für türkische Verhältnisse erhebliche Barschaft mit sich führte, durchaus haben wollte.

Also Chios. Ich suchte mir eine Bank, was gar nicht so leicht war, weil die sich in vor-Tourismus-Zeiten auf griechischen Inseln oft als Restaurants tarnten, oder die Restaurants als Bank, oder auch beide beides waren, was weiß ich. Ich wechselte die Hälfte meines Reserve-Tausenders in Drachmen, fragte den Erstbesten nach der nächsten Fähre nach Athen und wunderte mich über die Antwort:

You see it when it comes, sagte er.

Sicherheitshalber konsultierte ich den Zweitbesten, so ein bissl wie mit komplexer Krankheit beim Arzt: eine alternative Meinung einholen. Er sagte:

Oh ναι, impossible to miss, big boat.

Auch gut, ich ging zurück in die Bank oder zum Restaurant, was auch immer, kaufte mir am Schalter oder der Bar, was auch immer, eine Flasche Maphrodaphne und eine Flasche Mineralwasser, setzte mich auf die Kaimauer und nervte Vorbeigehende bei jedem größeren Schiff, das einlief, mit der Frage, ob das jetzt die Fähre …

Sie alle sagten ungefähr:

όχι, όχι, wait for the big boat.

Beim zehnten oder zwölften Mal begann mich das zwar zu nerven, doch der Maphrodaphne tat seine Wirkung, ich wurde gelassen, das hellenische Rundherum wurde weich. Ich, jetzt entspannt wie ein Grieche, saß einen ganzen halben Tag da, oder auch einen halben ganzen Tag, wie man´s nimmt, und als die riesige, also: die wirklich riesige Autofähre am Horizont groß wie ein Flugzeugträger den Himmel verdrängte, wusste ich:

Jetzt geht´s bald weiter.

Aber wissen Sie was? Ich hör jetzt auf zu schreiben und geh lieber ein wenig runter zum See, ein bissl schwimmen halt. Sie müssen sich, falls Sie das überhaupt interessiert, bis zur nächsten Folge dieser türkischen Reise gedulden.

Big story, impossible to miss, you´ll see it when it comes!, wie wir Griechen sagen. +++