Bist du einmal berühmt, ist das Leben anstrengend, denn: Du musst dich zeigen. Begibt der Mitbewohner Schrödingers sich zum Beispiel in Mondsee in den Segelclub, fragen dort alle zunächst einmal:
Wo ist die Katze?
Zu Hause, er schläft, sagt der Mitbewohner dann meistens und ein zarter Hauch der Enttäuschung weht über die Gesichter der Gesprächspartner.
Also hat der Mitbewohner sich entschlossen, Schrödinger während des Mondseebesuchs öfters mitzunehmen. Da traf es sich gut, dass die Hitze ein so stickiges Klima in Schrödingers Sommerwohnung schickte, dass man sich dort ohnehin kaum aufhalten konnte. Natürlich, die Fenster ließen sich schon öffnen, mit heruntergelassenen Jalousien könnte man die Wohnung auch verdunkeln. Aber nicht mit Schrödinger. Der Kater will nämlich grundsätzlich raus. Er hat per Panoramablick beinahe den ganzen See vor sich oder zumindest vor der Fensterfront, da hält es ein Energiebündel Marke Schrödinger nicht drinnen. Und auch nur einen Spalt breit geöffnete Fenster sind eine Einladung zum Entwischen. Also blieb in dieser Hitzewoche alles geschlossen, alles blieb stickig, und Schrödinger wollte raus. Dem Mitbewohner zeigte er das vornehmlich durch lautes, nachhaltiges und enthusiastisches Beschwerde-Miauen an, bis dieser die Nerven wegwarf. Und weil der junge Mann im zarten Alter von 58 inzwischen so gut wie nichts mehr aushält, wirft er diese Nerven neuerdings ziemlich schnell weg. Eben deshalb war Schrödinger während der vergangenen Tage Dauergast im Segelclub.
Aber jetzt Gefahr, denn der Kater ist gewachsen, innerlich wie äußerlich. Was ihm vor einer Woche noch recht war, ist inzwischen nicht einmal mehr billig. Was ihm zu kompliziert war, das erledigt er nun mit links. Die Menschen in seiner Umgebung, vor allem den Mitbewohner, versetzt das in einen konstanten Zustand des Pferdegalopps. Irgendwem hetzt Schrödinger immer voran, irgendwer hetzt Schrödinger immer hinterher. Spazierte er in der Vorwoche noch brav über das Deck der Blue Grape, während sein Mitbewohner im See planschte, springt er nun umstandslos vom Schiff auf den Steg, und weg ist er. Der Mitbewohner hatte kürzlich seine liebe Not, ihn wieder einzuholen, bevor Schrödinger durch das nächstbeste Loch im Zaun in die Mondseer Umgebung diffundiert wäre, die für einen Jungkater immer noch eine echte Todeszone ist: Viel befahrene Bundesstraße, wild geifernde, frei laufende Touristenhunde, närrische Schwäne zu Wasser und zu Land, die ihren Nachwuchs verteidigen, und so weiter. Frage nicht.
Außerdem lockt stets die Kombüse des Klubs, in der S werkt, in deren wohlwollende Hände sich der damals wirklich noch kleine Schrödinger seinerzeit begeben hatte, als ein unbekanntes Schicksal ihn im Segelclub stranden ließ. S bot ihm Unterschlupf, verständigte seinen heutigen Mitbewohner, und der hatte ihn sofort aufgenommen. Schrödinger wird das beiden nie vergessen. S besucht er, wann immer es geht und wann immer er der Meinung ist, in ihren Vorratskammern könnte sich das eine oder andere zarte Blatt Schinken verstecken, und dieser Meinung ist er praktisch pausenlos. Also rennt er auch pausenlos in Richtung Clubkombüse. Den Mitbewohner hält er so auf Trab und lässt ihn von einem Horrorzustand der Sorge um den kleinen Kater in den nächsten fallen. Dabei liebt er ihn insgeheim mindestens ebenso inständig wie der Mitbewohner Schrödinger liebt. Er miaut ihm das auch immer vor, doch der Mitbewohner mit seinen nicht vorhandenen Katzisch-Kenntnissen versteht das nicht. Aber Schrödingers Miaus sagen stets nichts anderes als:
Entspann dich, du bist mein bester Freund, ich geh hier nie mehr weg, ich bleib für immer bei dir!
Würde der Mitbewohner das verstehen, ein fettes Tränchen der Rührung und Freude kullerte ihm über die Wange. Er würde seine Sorgen Sorgen sein lassen. Doch so ängstigt er sich hauptsächlich, Schrödinger könnte etwas zustoßen.
Zum Glück gibt es in Schrödingers Segelclub allerlei freundliche Menschen, die sich um ihn kümmern. Etwa V, die Schrödinger seinerzeit sofort nach dessen Ankunft mit den nötigsten Katzenutensilien ausgestattet hatte. Oder die Frauen der Familie G. J etwa, die Mutter von A und noch einer V, und deren Großmutter, eine dritte V. Alle vier G-Damen bemühten sich diese Woche um Schrödingers Wohlbefinden, sodaß der Mitbewohner, durchaus bereits gezeichnet vom Stress der Dauersorge um Schrödinger, ein wenig entspannen konnte. Sie führten den Kater spazieren, bespaßten ihn und ließen sich umgekehrt von ihm becircen. Schrödinger kann das nämlich gut, er verfügt über den ganz speziellen Charme eines ganz speziellen Katers, die Frauenherzen fliegen ihm nur so zu.
Er verbrachte diese Woche also vornehmlich damit, die Einrichtungen seines Clubs, des SCS Mondsee, zu genießen. Den kleinen Baum am Wasser zum Beispiel, auf den es sich vorzüglich klettern und dann mit der Leine so verheddern lässt, dass der Mitbewohner anrücken muss, bewaffnet mit einem Stuhl und einer gehörigen Portion Entschlossenheit, um den Kater wieder auf die Erde zu holen. Oder den riesigen Eukalyptusbusch, in dessen Tiefen es sich vorzüglich verschwinden und dann mit der Leine so verheddern lässt, dass der Mitbewohner anrücken muss um, … Oder. Oder. Und so weiter. Schrödinger hat im Club auch sein Lieblings-Grasbüschel, in das er sich von oben fallen lässt, als wäre es eine grüne Matratze: Maß nehmen, Absprung, und dann von oben hinein. Und natürlich S mit ihrem Schinken in der Clubkombüse, die geht ihm sowieso über alles. Und dann gibt es da auch noch den großen weißen Hund A mit seinen schwarzen Einsprengseln und den sehr kleinen weißen Hund J ohne Einsprengsel, dem Schrödinger auf Augenhöhe begegnen kann. Er mag sie beide, auch wenn er das nicht so zeigen kann, wie er dem Mitbewohner seine Liebe zeigt.
Den beißt er nämlich stets zärtlich in die Finger, A und J faucht er an. Und schließlich gibt es im Segelclub auch noch den freundlichsten aller freundlichen Hunde der Welt, ein Therapiehund mit deutschem Migrationshintergrund names Paule. Den mag Schrödinger besonders, denn Paule bewegt sich für gewöhnlich so langsam, dass er immer einschläft, wenn er ihm zusieht. Und Schlafen ist sowieso das, was Schrödinger am besten kann. Ausgenommen natürlich Verwüsten der beiden Mitbewohner-Wohnungen.
Kurz gemiaut: Schrödinger liebte die soeben vergangenen Tage seiner Mondsee-Reise im Segelclub. Er tat auch sein Bestes, den Maulwurf unter der Clubwiese zu jagen, dem der Segelclub-Ehrenpräsident schon seit langem auf den Fersen ist, aber auch Schrödinger war kein Jagdglück gegönnt. Er wird das im nächsten Jahr weiter verfolgen, sollte der Ehrenpräsident das Vieh bis dahin nicht erwischt haben.
Gestern trat Schrödinger seine Rückreise nach Graz an, wie üblich die meiste Zeit auf der Schrödingerliege des Soulredsummerfeelingautos seines Mitbewohners dösend. Zwischendurch hielt er auch ein Nickerchen in – besser gesagt: auf – seinem Transportrucksack am Beifahrersitz, um sich vom vielen Dösen auszuruhen. Am Ende der Fahrt lauerte jedoch eine Überraschung: Der Mitbewohner transportierte Schrödinger nicht direkt nach Hause, sondern legte einen Zwischenstopp in den Hügeln nördlich von Graz ein, Freunde besuchen. Als Schrödinger dort ausstieg, traute er seinen Augen kaum:
Katzen. Katzen! Überall Katzen!! Zwölf Katzen!!! Und es wurden immer mehr, denn die Katzen hatten auch Nachwuschskatzen dabei.
Die leben alle da, informierte ihn der Mitbewohner, das da zu Beispiel ist Franz Ferdinand, den alle nur Franzl nennen, das ist Viktoria mit ihrem kleinen Sohn, das ist Sophie, das ist Leopold, das ist …
Schrödinger war perplex. In seinem bisherigen Jungkaterleben waren andere Katzen bis auf eine Ausnahme anlässlich eines Besuchs bei seinem Mondseer Freund F noch nicht vorgekommen, und die hatte er mit einem Buckel wie nicht von dieser Welt mühelos verscheucht. Aber die da, diese Katzen waren irgendwie anders. Die ließen sich nicht verscheuchen, die wollten Freundschaft mit ihm schließen. Diese Sophie schnupperte sogar an seinem Hinterteil! Schrödinger wusste nicht, wie ihm geschah. Vorsichtshalber fauchte er ein wenig und verhielt sich sonst ruhig. So hatte er sich seine Rückkehr nach Graz nicht vorgestellt.
Doch der Mitbewohner blieb nicht lange und schon kurz danach konnte Schrödinger zu Hause in Graz wieder das tun, was er am besten konnte: Schlafen. Die Outdoor Chilling Area am Balkon empfing ihn mit offenen Armen.
Ich hab auf dich gewartet, Baby!, flüsterte sie Schrödinger in sein linkes Katzenohr, in einer Sprache, die nur er verstehen konnte.
Und von drinnen lockte das Ledersofa, das der Mitbewohner gar nicht schnell genug mit Decken verhüllen konnte, mit einem betörenden Singsang:
Komm, komm doch, komm herbei, zerkratze mich, verwüste mich, beiß in mich hinein …
Schrödinger beeilte sich, dieser Forderung umegehend nachzukommen. Er wusste jetzt: Er war wieder zu Hause. Er war zufrieden. Glücklich beinahe. +++