Da sind Wellen in den Leben von uns Menschen und nutzen wir ihre Strömung, führen sie uns zum Glück. Ich glaube, Sie kennen das: Manchmal, selten nur, aber doch ab und zu, lässt wer oder was auch immer eines Abends unerwartet eine solche Welle an uns heranrollen, sie erfasst uns und wir erleben etwas Schönes. Manchmal sind es nur Augenblicke, kurz, Ahnungen von etwas anderem, leider Fremdem, Geheimnisvollem, von dem wir nichts wissen, aber das uns eine ganz spezielle Art von Hoffnung und Freude einpflanzt, die uns im Alltag sonst fehlt.
Neben mir am Tresen stand eine Südländerin, schon auf den ersten Blick als solche erkennbar, feurig und doch bescheiden, schwarzes Haar und rote Lippen, wie einem Bild entstiegen, mit einer Stimme wie süßer Saft. Sie unterhielt sich mit ihrem Freund, auf Italienisch. Man kam ins Gespräch und es stellte sich heraus, sie hatte den klangvollsten Namen der Welt, denn sie hieß: Tiziana Fortuna. Eine Glücksbotin. Ihr Vater, tatsächlich ein Maler in Florenz, hatte ihr diesen Vornamen gegeben, und Tiziana machte ihm allein schon optisch alle Ehre. Sie war einigermaßen klein, aber unglaublich schön. Sie war gebildet, charmant, warmherzig, sie war einfach das Leben, wie es weicher und freundlicher nicht sein kann. Ihr Freund aus Bologna studierte in Triest, stand neben ihr, wir hatten alle zusammen einen unterhaltsamen Abend.
Tiziana erzählte von ihrer Heimat, Sizilien, aus der ihr Vater in den Norden, nach Florenz, umgezogen war, als sie noch ihre Jugend abfeierte. Ein kleiner Schock damals, denn Avola, das schmale Städtchen an der Küste, nahe der Stadt Siracusa, ist eine Honigmelone des Südens auf einer großen Insel, die für sich genommen schon das reine Glück ist. Tiziana vermisste in diesem Augenblick ihre altes Zuhause.
Und dann kam der Moment, den ich nicht vergessen will, weil er in einem einzigen Augenblick die ganze Welt in sich vereinte. Tiziana bestellte eine Flasche Rotwein, irgendeine, und René, der Wirt, der Feinsinnige, der Menschenkenner, der uns hinter seinem Tresen wohl zugehört hatte, brachte einfach so eine ganz besondere Flasche: einen originalen Nero d´Avola, mitgebracht von einer Sizilien-Reise. Rotwein von zu Hause für Tiziana. Sie erstarrte. Dann nahm sie die Flasche, führte sie zum Mund und küsste das Etikett, eine poetische Geste der Heimatliebe und der Erinnerung daran. Einen rosenroten Lippenabdruck hinterließ sie auf dem matten Papier. Erst dann schenkte sie uns ein und wir alle tranken, was für die schöne Tiziana ein Wiedergänger aus dem Leben ihrer Kindheit und Jugend war, das ihr in der fernen Stadt Triest wohl fehlte, die der Norden des Südens genauso ist wie der Süden des Nordens, der Osten des Westens und der Westen des Ostens.
Ich sah die beiden, Tiziana und ihren Freund, nie mehr wieder. Aber ich weiß immer noch den Namen der Sizilianerin, ich sehe ihr Gesicht vor mir, diesen Kuss, den sie der Weinflasche aufdrückte, und ich freue mich, dass ich diese besondere Erinnerung in mir halte und dass das Leben sie mir ab und zu, selten nur, heraus aus meinem Innen an die Oberfläche der Gedanken schwappt. Dann reite ich auf dieser Strömung und fühle mich gut. Dann ist kein Wagnis verloren. +++
There is a tide in the affairs of men.
Which, taken at the flood, leads on to fortune;
Omitted, all the voyage of their life
Is bound in shallows and in miseries.
On such a full sea are we now afloat,
And we must take the current when it serves,
Or lose our ventures.
Shakespeare, Julius Caesar, 4. Akt, 3. Szene