Ein wenig ist es schon so, dass unsere Welt in den vergangenen Jahren aus den Fugen geraten zu sein scheint. Natürlich – das gab es schon immer, dass man mit fortschreitendem Alter zur Ansicht neigt, irgendwie sei alles nicht mehr in Ordnung, nicht mehr so wie früher. Nun ja. Auch ist es Fakt, dass gerade meine Generation, die Babyboomer der Geburtsjahrgänge der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, die bislang erste und einzige Generation der Menschheitsgeschichte ist, die existentielle Probleme wie Krieg, finanzielle Not oder traumatische soziale Erfahrungen nur aus der Geschichte kennt. Wenn man so will: Wir sind eine wirklich begünstigte Generation. Weil wir nichts gewohnt sind, wirft uns nun schon etwas um, dass den Menschen noch zwei oder drei Generationen vor uns – kriegsgebeutelt, existenzsorgenumwölkt und so weiter – vermutlich als Schwierigkeit gar nicht aufgefallen wäre
Wir reagieren darauf mit Ersatzhandlungen beim Finden von Problemen: Wir zelebrieren, nur zum Beispiel, politische Korrektheit bis zum Stumpfsinn. Nehmen Sie etwa nur die ganze Diskussion um die Winnetou-Bücher und -Filme aus dem vergangenen Herbst. “Kulturaneignung!” schrien jene, die sonst keine anderen Probleme haben – bloß weil darin ein braungebrannter Franzose einen Indianer spielte. Einmal ganz abgesehen davon, dass gerade die Karl-May-Romane einer Welt der Gleichbehandlung aller Völker und Rassen das Wort reden und dass es etwas seltsam ist, wie sehr er Deutsche überall die Superhelden und Alles-Checker sein ließ: Es handelt sich um einen Film, um einen Roman: Das sind erfundene Geschichten und Figuren, die von Schauspielern dargestellt werden. Erfundene Geschichten. Schauspielerei. Beides lebt davon, etwas darzustellen, das nicht ist. Da von Kulturaneignung zu reden, ist schlicht die Absenz von Intelligenz.
Ist wirklich alles aus den Fugen? Nun, sehen wir uns doch die Schlagzeilen von gestern an, der Einfachheit halber auf orf.at. Also, Politik: Der Hoffnungsträger der SPÖ, Andreas Babler, wurde zum Bundesrat angelobt – jetzt ist er Traiskirchner Bürgermeister, Bundesrat, Leiter der Reformkommission der SPÖ Niederösterreich, Vizepräsident des Verbandes sozialdemokratischer Gemeindevertreter, Landesparteivorstand der SPÖ Niederösterreich, Obmann-Stellvertreter des Bezirksverbandes Baden des Verbandes sozialistischer Gemeindevertreter – alles gleichzeitig. Nicht genug offensichtlich. Jetzt will er auch noch SPÖ-Chef werden. Kurz: ein echter Multifunktionär im schlechtesten Sinn des Wortes. Und so einer soll ein politischer Hoffnungsträger sein? Oder: Gleichzeitig starten am Montag sieben Volksbegehren. Sieben! Das ist zwar demokratiepolitisch lobenswert, aber wir wissen ja, wie es endet: Unsere Nationalratsabgeordneten tun, was sie tun müssen, sobald ein Begehren 100.000 Stimmen erreicht hat. Sie führen dazu eine halbseidene Alibidebatte fürs Parlaments-TV ohne jedes Engagement ab, und abgehakt. Danach wird das Volksbegehren umstandslos gekübelt. Beide Sachverhalte sind ein Zeichen für eine schon lange aus dem Ruder gelaufene Politik in Österreich. Ein kompletter Neustart wäre gefragt – mit anderen, besseren Politikern und anderen, besseren Parteien.
Lesen wir weiter und schauen wir über den nationalen Tellerrand: Die russischen Ölexporte befinden sich auf dem höchsten Stand seit 2020, trotz Angriffskrieg in der Ukraine und westlicher Sanktionen. Dass da etwas aus den Fugen geraten ist, liegt nahe. Die Welt hält offensichtlich selbst gegen bösartigste Aggressoren nicht zusammen, sondern arbeitet mit Verve gegeneinander.
Und neulich der Blick ins Heimatland? In Wien-Favoriten überfiel ein Gangster einen Geldtransport und machte sich mit einem Tretroller aus dem Staub. Mit einem Tretroller! Die Polizei hat ihn nicht erwischt. Hm. Allerdings: Dass wir eine Polizei haben, die lieber gut integrierte Asylsuchende abschiebt, nachdem das Innenministerium deren Verfahren über Jahre verschleppt hat, als effizient Kriminelle zu bekämpfen, ist eh altbekannt. Aus den Fugen geraten ist dieses Verhalten trotzdem, schon seit langem.
Weiter: Der Presserat ist sich nicht zu blöd, die Wochenzeitung “Falter” zu “rügen”, weil die den FPÖ-Rechtsaußen in Niederösterreich, Gottfried Waldhäusl, als “Unlandesrat” bezeichnet hat – nach dessen Ausfällen gegen eine Wiener Gymnasiastin mit Migrationshintergrund. Eine Schande, Presserat. Doch mittlerweile darf man Waldhäusl jedenfalls als “Un-Landesrat” bezeichnen – nämlich in dem Sinne, dass er keiner mehr ist. Rügt mich meinetwegen, ihr vom Presserat. Waldhäusl ist inzwischen Zweiter Landtagspräsident in Niederösterreich, also nach oben gefallen – ich sage: eine Schande auch dieses.
Zu guter Letzt neuerlich ein Blick über den Tellerrand: In Amerika vermuten die beiden Schauspieler Matthew McConaughey und Woodie Harrelson tatsächlich, dass sie Halbbrüder sein könnten, weil die Mutter des einen soeben zugab, den Vater des anderen während eines Hafturlaubes – er war Auftragskiller, was an sich schon kurios genug ist – “kennengelernt” zu haben. Die Dame nach Einzelheiten zu fragen, trauen sich Harrelson und McConaughey nicht. Schon ein bissl seltsam, fugenlos sozusagen, aber immerhin unterhaltsam.
Wie gesagt: Die Welt ist aus den Fugen. Aber besser wird’s wohl nicht mehr, eher schlechter. Und irgendwann werden uns sowieso Klimawandel und KI, der das Klima herzlich wurscht sein dürfte, den Rest geben. Die Terminator-Filme lassen grüßen. Dann wird die Welt wieder in Ordnung sein. Nur uns wird es uns halt nicht mehr geben. +++