Arbeitsminister Kocher spricht von einem überraschend großen Arbeitskräftemangel und Wirtschaftskammer-Präsident Mahrer sieht bei seinem Alarmruf gar ein um neun Prozent geringeres Bruttoinlandsprodukt, wenn künftig nicht ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen würden. Jedenfalls gab es am Arbeitsmarkt noch nie so viel offene Stellen wie derzeit.
Die Überraschung von Politikern und Branchenvertretern wäre jedoch nicht notwendig gewesen. Man tut fast so, als wäre der Arbeitskräftemangel wie eine Naturkatastrophe hereingebrochen. Dabei ist die Bevölkerungspyramide ein Bild, das sich sehr langsam verändert. Dass die Babyboomer jetzt zu Zehntausenden in Pension gehen, weiß man seit ungefähr 50 Jahren. Der seinerzeitige Leiter der sozialpolitischen Abteilung in der Industriellenvereinigung warnte deren Vorstandsmitglieder bereits in den frühen 90er Jahren, dass hier ein Problem kommen werde, auf das man sich rechtzeitig vorbereiten müsse.
Dass zu wenig Junge auf den Arbeitsmarkt kommen, um sie quantitativ zu ersetzen, weiß man dank der Geburtenstatistik seit mindestens 15 Jahren. Den Arbeitskräftemangel konnte also jeder mit Kenntnis der Grundrechnungsarten kommen sehen. Neu ist höchstens, dass viele Junge nicht mehr Vollzeit arbeiten wollen. Meine Generation hat noch die Überstunden gesucht, denn 50 Prozent Zuschlag für jede zusätzliche Stunde bedeutete lukrativen Mehrverdienst, um einen VHS-Videorekorder oder gar einen Gebrauchtwagen anschaffen, zumindest aber einen Urlaub in Italien finanzieren zu können.
Heute wollen laut aktuellem „Workmonitor“ 59 Prozent keine Arbeit annehmen, welche die Work-Life-Balance stören könnte, und 30 Prozent wären gar lieber arbeitslos als unglücklich im Job. In Österreich leben heute über eine Million Menschen mehr als vor 30 Jahren. Es sind auch so viele Menschen wie nie zuvor beschäftigt – und dennoch ist die Zahl der Vollzeitkräfte seit Mitte der 1990er-Jahre mit knapp drei Millionen Menschen in etwa konstant geblieben. Der gesamte Beschäftigungszuwachs ging also einzig und allein auf das Konto der Teilzeit.
Die üblichen Antworten der Politik auf den Arbeitskräftemangel lauten monoton mehr Vollzeitstellen, späterer Pensionsantritt und Arbeitsmigration. Dabei sprechen sich im „Workmonitor“ bereits 42 Prozent der Befragten für eine reduzierte Wochenarbeitszeit in ihrem Leben aus. Und ebenso viele der derzeit Arbeitenden wollen sich „spätestens“ mit 60 in die Pension verabschieden; lediglich neun Prozent wären bereit, eventuell noch als mit 65 zu arbeiten.
Wer wiederum gehofft hat, dass der Flüchtlingsstrom hier Abhilfe schaffen kann: Von jenen, die seit 2015 in der großen Welle nach Österreich kamen, hat bisher nur etwas mehr als die Hälfte einen Job gefunden. Meistens am unteren Ende der Qualifikationsbandbreite. Und besser wird es sicher nicht: Laut Integrationsfonds können derzeit nur drei von zehn der nach Österreich Geflüchteten als alphabetisiert eingestuft werden.
Sicherlich würde eine bessere und raschere Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen etwas Abhilfe bringen. Ebenso ein flächendeckendes Angebot von Ganztagskinderbetreuung, die nicht für die Mittagspause oder in den Schulferien zusperrt. Ein anderer Ansatz wären jene 100.000 Personen, die jährlich freiwillig das Land verlassen – viele von ihnen gut ausgebildete Inländer, denen Österreich nicht mehr attraktiv genug war. Über ihre genaueren Motive gibt es aber nicht einmal eine Studie, geschweige denn Bemühungen, sie zu halten oder zurückzuholen. Steuerbelastung und Bürokratie wären einmal Punkte, an denen der Staat ansetzen könnte.
Ansonsten bleiben den Unternehmen wohl nur mehr Roboter und Algorithmen, die in den vielen offen gebliebenen Stellen einspringen können. Die kennen noch keine Work-Life-Balance. +++