Start Editor's Blog Der Diebstahl in den Zeiten der Digitalisierung

Der Diebstahl in den Zeiten der Digitalisierung

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Denken wir heute doch einmal gemeinsam nach, was die Digitalisierung abseits der euphorischen Ankündigungen von Politik und IT-Industrie für uns im alltäglichen Leben mit sich bringt – und benützen wir dabei eine wahre Alltagsgeschichte als Ankerpunkt für unsere Überlegungen.

Also, die Geschichte: Ich fuhr vergangenen Mittwoch mit dem Zug nach Wien, Vorbesprechungstermin für ein Buchprojekt. In Wiener Neustadt füllte sich der Railjet immer – oft ist es durchaus zwielichtig anmutendes Personal, das dort zusteigt. Doch egal, jedenfalls: Kurz vor der Station Meidling klauten mir Gauner die Tasche mit MacBook, iPad, Brieftasche mit sämtlichen Bankomat-, Debit- und Kreditkarten sowie allen möglichen Ausweisen. Mein lieb gewonnener kleine Reise-Montblanc-Kugelschreiber und das Moleskine-Notizbuch mit allerlei Ideen waren auch dabei. Doch ich will nicht klagen, ein bissl Unaufmerksamkeit halt, ein biss Pech, so ist das Leben. Was jedoch folgte, war ein Lehrstück durch die Untiefen der – nicht nur in Österreich – völlig missverstandenen und zu Unrecht forcierten Tendenz zur Digitalisierung von allem und jedem und der damit einher gehenden Gleichgültigkeit und Unfreundlichkeit der Menschen.

Folgende Erlebnisse:

Nummer 1: Sofort nach Ankunft in Wien hinaus vor den Bahnhof und am Vorplatz mit dem Handy nach der zentralen Sperrhotline gegoogelt, die in Österreich die Notfallsperren für alle Banken erledigt. Es geht dabei in erster Linie um Tempo, denn man muss mit dem Sperren schneller sein als die Kartendiebe mit dem Abheben. Doch inzwischen ist ja Digitalisierung. Man landet zunächst einmal bei einem Chatbot-Tonband, das einen minutenlang durch verschiedene Menüs führt, während derer man, Sie kennen das sicher, immer wieder Zahlen ins Telefon tippen muss, um dem Bot  die passende Richtung für das personalschonende Weiterleiten zu ermöglichen. Eine endlose Tortur für einen, der um sein Geld und um sinnlos verschwendete Minuten kämpft.

Dann meldet sich eine Frau mit Piepsstimme, leichtem Akzent und einer endlosen Begrüßung, ungefähr so:

“Wunderschönen guten Tag, schön, dass Sie bei uns anrufen. Meine Name ist Sowieso Sowieso, ich freue mich, dass ich Ihnen behilflich sein kann, was kann ich für Sie tun?”

Schilderung der Sachlage, Bitte um sofortige Sperrung. Folgender Dialog:

“Selbstverständlich, das machen wir sofort, Sie müssen mir nur Ihren IBAN sagen.”

“Weiß ich leider nicht auswendig.”

“Das ist überhaupt kein Problem, schauen Sie einfach auf Ihrer Debitkarte nach!”

“Haben Sie mir nicht zugehört? Die ist mir gestohlen worden, ich kann also nicht auf ihr nachsehen.”

“Das ist überhaupt kein Problem, blättern Sie einfach in Ihren Bankunterlagen nach, dort finden Sie den IBAN mit Sicherheit!”

“Haben Sie mir nicht zugehört? Ich kann nicht in meinen Bankunterlagen nachblättern, weil ich vor dem Hauptbahnhof in Wien stehe und nicht in meinem Wohnzimmer.”

“Das ist überhaupt kein Problem. Begeben Sie sich einfach nach Hause und schauen Sie dort in Ihren Bankunterlagen nach.”

“Haben Sie mir nicht zugehört? Ich bin in Graz zuhause und bis ich wieder dort bin und nachschauen kann, vergehen Stunden. Aber es geht um eine Notsperre, um Abhebungen nach einem Diebstahl zu vermeiden. Für Stunden ist da keine Zeit!”

“Oh, da kann man aber leider nichts machen. Rufen Sie einfach wieder an, sobald Sie Ihren IBAN wissen, dann sperren wir Ihre Karten innerhalb von Sekunden.”

“Wie bitte? Was soll das für eine Notfallsperre sein? Wie wäre das: Ich sage Ihnen einfach meinen Namen, mein Geburtsdatum, meine Adresse, mein Bankinstitut, und dann können Sie ja selbst den IBAN abrufen und die Karten sperren. Wie gesagt: eine Not! Fall!! Sperre!!!

“Nein, das machen wir nicht, bitte rufen Sie wieder an, Sobald Sie den IBAN haben. Denn helfen wir Ihnen sehr gerne.”

Gespräch beendet. Digitalisierung – statt eines hilfsbereiten Kundenbetreuers trifft man auf Chatbots und unwillige Apparatschiks oder Innen, die vor einem Bildschirm sitzen und stur ihren Standard-Vorgaben folgen, egal was passiert ist und welche Handlungsweise gefragt wäre. Mitgefühl: null. Hilfsbereitschaft: null.

Note in Sachen Dienslteistungsorientierung und Kundenfreundlichkeit für die österreichische Banken-Sperrhotline:

Nicht Genügend.

Die Bankinstitute können es selbst sehr viel besser und schneller. Empfehlung also aus eigener Erfahrung: Wenn Sie Ihre sämtlichen Kontendaten nicht bulletproof in- und auswendig können, rufen Sie im Fall eines Kartendiebstahls keinesfalls die Sperrhotline an, sondern wenden Sie sich – auch wenn das mühsamer ist – direkt an den Kundenbetreuer Ihrer Bank.

Erlebnis Nummer 2: Zurück in den Bahnhof, zum Infopoint, nach dem Lost & Found Schalter fragen. Inzwischen ist ja gut eine Stunde vergangen – wer weiß, ob die Gauner nicht schon abgehoben haben, was abzuheben war, Tasche, Karten und Ausweise danach weggeworfen haben, die von jemandem gefunden und abgegeben wurden. Außerdem Frage nach der Polizeidienststelle am Bahnhof. Am Schalter sitzt ein bereits auf den ersten Blick erkennbar nicht deutsch könnender Mensch, gelangweilter Blick auf seinen Bildschirm. Er blickt nur kurz zum Kunden hoch, der da vor seiner Glasscheibe auftaucht. Nicht schwer zu erkennen: Der ÖBB-Mitarbeiter am Infopoint des Wiener Hauptbahnhofes fühlt sich gestört. Da steht glatt einer, der will eine Info von ihm. Folgender kurzer Dialog:

“Mir sind im Zug alle Ausweise, das MacBook und das iPad gestohlen worden, ich möchte eine Anzeige machen, wo ist hier am Bahnhof die Polizei?”

“Nix wissen ich. Dort.”

Vage Handbewegung in irgendeine undefinierbare Richtung. Seufzer beim Info-Suchenden, Seufzer beim Mann am Info-Schalter.

“Also gut, dann sagen Sie mir bitte, wo, der Lost & Found Schalter ist!”

“Lounge is dort!”

Plus vage Handbewegung in Richtung gegenüber.

“Nicht die ÖBB-Lounge! Der Lost & Found Schalter.”

“Is unten.”

Vage Handbewegung nach unten, er schiebt mir auch eine Visitkarte unter der Glasscheibe durch, auf der “Lost & Found” sowie das ÖBB-Logo stehen. Und sagt noch:

“Aber zu. Bürozeiten. Keiner da.”

Ich notiere geistig: Der Lost & Found Schalter der ÖBB am größten Bahnhof des Landes hat an einem Mittwoch Nachmittag kurz nach 16 Uhr bereits geschlossen, weil die ÖBB ihre Kunden offensichtlich nur zu Bürozeiten servicieren wollen. Außerdem ist er im finstersten Eck eines Untergeschosses hinter einer grindigen, engen Milchglastüre versteckt. Eh klar – wer braucht Lost & Found heute noch. Im Zeitalter der Digitalisierung wird einfach neu gekauft, was verloren ist. Und wer braucht schon zufriedene Kunden, wenn es eh fast keine Konkurrenz gibt und der Klimawandel kostenlos Werbung für die eigenen Services macht (die im Übrigen immer noch ziemlich miserabel sind). Außerdem notiere ich: Die ÖBB beschäftigen an den Schnittstellen zu ihren Kunden Menschen mit sehr viel Migrationshintergrund, die sich weder einigermaßen auf Deutsch artikulieren können noch besonders freundlich, auskunftsfreudig oder gar hilfsbereit sind. Ein interessanter Zugang zum Thema Dienstleistungsorientierung.

Note für die ÖBB deshalb: Nicht genügend.

Erlebnis Nummer 3: Bei der Bahnhofspolizei des Wiener Hauptbahnhofes, deren Dienststelle sich nicht am Hauptbahnhof befindet sondern deutlich davon entfernt: Ein Beamter öffnet die Türe, hört sich einige Sekunden lang mein Begehr an, unterbricht dann und sagt:

“Woatn´s do draußen”.

Und schließ die Türe wieder, verschwindet wortlos in seiner Amtsstube, durch das Sicherheitsglas gut beobachtbar. Zwei, drei Minuten später kommt eine Kollegin von ihm, öffnet die Türe und fragt nach dem Begehr. Wieder derselbe kurze Monolog, diesmal ununterbrochen.

“Kommen´S rein”, sagt die freundliche, rundliche mittelalterliche Inspektorin, setzt sich an den Tisch, und fragt neuerlich nach dem Begehr.

Also dieselbe Geschichte ein drittes Mal. Dann sucht sie nach dem entsprechenden Formular, findet es nicht und sagt:

“Wortn´S do.”

Und geht ab. Nach zwei, drei Minuten kommt sie wieder und fischt das Formular hervor – es ist das oberste Blatt Papier im offenen Bürofach direkt hinter ihr auf Augenhöhe. Sie fragt nach den Details der Geschichte, die sie erst zweimal gehört hat. Ich notiere einerseits geistig, mich in meinem Vorurteil bestätigt zu fühlen, dass bei österreichischen Polizisten und Innen das Potenzial zur Erweiterung der intellektuellen Fähigkeiten grundsätzlich ganz schön viel Luft nach oben hat. Und andererseits wiederhole ich geduldig die Geschichte mit den Details, zum vierten Mal. Die freundliche Inspektorin hört geduldig zu.

Dann wiederholt sie die Details – die meisten falsch, aber ich korrigiere gelassen. Jetzt habe ich ja Zeit, weil: Eh schon alles gesperrt. Dann beginnt sie, das Anzeigenformular händisch auszufüllen, der direkt vor ihr stehende PC bleibt ungenützt.

“Mit dem hob I´s net so”, sagt sie.

Ich seufze. Als Tatort schreibt sie “Meidling” ins Formular. Dass ich mit “stimmt nicht, zwischen Wiener Neustadt und Meidling” korrigiere, kommentiert sie so:

“Ah. Eh wuascht.”

Es bleibt bei Meidling. Die Aufnahme der Anzeige dauert eine gute halbe Stunde, so lange benötigt sie, um sechs oder sieben handgeschriebene Zeilen zu Papier zu bringen. Ich überlege, ob ich ihr anbieten soll, das alles für sie in die Tastatur zu tippen, weil schließlich: Beruf Journalist und so. Dann denke ich mir jedoch:

Ah. Eh wurscht.

Nach 40 Minuten überreicht sie mir die kopierte Anzeigenbestätigung, nicht ohne erleichtertes Durchschlafen. Wahrscheinlich ist sie stolz auf sich und froh, das so einwandfrei über die Bühne gebracht zu haben. Ich habe nur noch eine Frage, also Dialog:

“Können sie mir noch schnell sagen, welchen Bus ich jetzt nehmen muss, um in die Siebenbrunnengasse zu kommen?”

“Des waaß I net.”

“Aber sie sind doch Polizistin am Bahnhof, hier in Wien. Und wissen nicht, welchen Bus ich vom Bahnhof aus nehmen soll?”

“I bin net aus Wien, I kenn mi do net aus.”

Hm. Ich sage:

“Ah. Eh wurscht.”

Und Abgang.

Dass mich zwei Tage später dann am Grazer Verkehrsamt die – unfreundliche, aber immerhin gut Deutsch sprechende – Beamtin am Auskunftsschalter unwirsch rügt, weil ich mit der Kopie einer handgeschriebenen Anzeigenbestätigung aufkreuze, will ich nur am Rand erwähnen. (Man kann oder will sie nämlich dem Anschein nach so nicht einscannen). Der zuständige Beamte am Schalter 3 – unfreundlich, gutes steirisches Dialektdeutsch – kassiert sie nach zwei Stunden Wartezeit überhaupt ein und gibt sie mir nicht wieder. Dass ich danach zwei Telefonate und zwei Mails mit der Polizeidienststelle am Wiener Hauptbahnhof benötige, um eine neue zu bestellen, die bis heute nicht eingetrudelt ist: eine andere Geschichte.

Die Wiener Polizei hat das mit der Digitalisierung dort, wo sie das Leben der Bürger wirklich einfacher machen würde, halt noch nicht so gut drauf. Der Computer hat sich bei den Freunden und Helfern als Freund und Helfer noch nicht so recht durchgesetzt. Wahrscheinlich glaubt die Polizei, dass eMail eh überschätzt wird. Oder sie denken sich generell:

Ah. Eh wurscht.

Unfreundlich sind sie aber trotzdem.

Note für die Polizeidienststelle beim Wiener Hauptbahnhof: Genügend, gerade noch.

Beklaut zu werden ist also ärgerlich. Alles, was danach kommt, die ganzen notwendigen Abwicklungen mit den österreichischen Behörden, sind jedoch das pure, das ganz große Abenteuer.

Jedenfalls, die Moral von der Geschichte: Passen Sie im Zug gut auf Ihre Sachen auf, idealerweise sogar besser. Wenn Sie auf Nummer sicher gehen wollen, fahren Sie mit dem Auto. Bloß nicht mit den ÖBB.

Und ihr, ihr Gauner, die ihr meine Sachen geklaut habt: ein völlig sinnloser Diebstahl.

Alles gesperrt, MacBook und iPad über die Cloud von Apple längst unbrauchbar gemacht. Aber ich wünsche euch viel Spaß mit dem Buch über Quantenphysik, das ebenfalls in der Tasche war. Vielleicht versteht ihr ja nach der Lektüre genug, um über die vielen Paralleluniversen Bescheid zu wissen, die möglicherweise existieren. In einem davon treffen wir uns sicher wieder, und dann drehe ich euch den Hals um. Auf die gute, alte, harte Tour:

Nämlich ganz analog. +++