Nördlich von Wien, im Überschwemmungsgebiet der Donau, existiert ein weithin unbekanntes Biotop persönlicher Sehnsüchte, verwirklichter Mittelklasse-Träume, eine Idylle der Sommerfrische nahe der Großstadt – und das alles von Gnaden der Äbte des nahen Stiftes Klosterneuburg.
Einmal alle paar Jahre, da werfen die Besitzer die Nerven weg und beginnen zu schaufeln. Immer dann, wenn ein Donau-Hochwasser, das hier ebenso sicher stattfindet wie das Amen im Gebet, ihre oft sorgfältig angelegten Gärten überschwappt hat und die hölzernen oder stählernen Stützen hinauf gestiegen ist, langsam, ganz langsam aber stetig, bis zum ersten Stock, wo die Wohnebenen beginnen. Dann steigen die Bewohner der Häuschen in ihre bis zur Brust reichenden Fischerhosen, schlüpfen in die hochschaftigen Gummistiefel, und beginnend fluchend, ihr gepachtetes Eigentum wieder von Wasser und Schlamm zu befreien. Die Bewohner, das sind Rechtsanwälte, Journalisten, Ärzte, Steuerberater und andere Angehörige des guten und zumeist recht erfolgreichen Wiener Mittelstandes. Sie alle haben sich hier heraußen, in den Donauauen um Klosterneuburg, im sogenannten Überschwemmungsgebiet, ihre kleinen Fluchtpunkte geschaffen, ihre persönlichen Sehnsuchtsorte gepachtet. Ihre Häuser haben sie auf Stelzen gebaut, deren Boden somit in gut zwei Meter Höhe liegt, das schreibt die lokale Bauordnung so vor. Und sie alle verbringen hier, direkt vor den Toren der überhitzten, klimageschädigten Großstadt Wien, für gewöhnlich ihre Sommer in einem kleinen, überschaubaren Idyll.
Die Stelzenhaussiedlungen zwischen Klosterneuburg, der Wiener Speckgürtel-Vorstadt, und der Donau also. Über allem thront das Chorherrn-Stift, das auch der Grundeigentümer ist und mit der Pacht ordentlich Geld macht. Mitten im Überschwemmungsgebiet liegen die Häusergrüppchen, tragen Namen wie Strombadsiedlung, Strandbadsiedlung, Rollfährensiedlung, Schwarze-Au-Siedlung und so weiter. Auf Stelzen müssen die kleinen Häuser gebaut werden, im modernen Sprech würde man wohl Tiny Houses zu ihnen sagen, damit das Hochwasser, ein steter Gast, sie gefahrlos um- und unterspülen kann. Häusergrüppchen zwei Meter über dem Boden ergibt das, in denen die etwas bessere, aber dann doch noch nicht erstklassige Wiener Gesellschaft ihre Sommerträume vom ländlichen Wohnen am Wasser verwirklicht. Hier wird gechillt, gegrillt, in der Sonne gelegen, auf Terrassen vor sich hin gedacht oder gelesen, gepaddelt, geschwommen, und was man halt so tut, wenn man im Sommer am Wasser wohnt.
Ja, es ist tatsächlich eine Idylle. Es gibt beim Spazierengehen viel zu schauen: Kleingartensiedlungen, die in Küstendörfer transferiert wurden, weil die Donau und ihre Überlastungsbecken direkt vor den Haustüren liegen, versprühen einen ganz besonderen Charme. Es ist der Duft des Sommer,s der hier in der Luft liegt. Im Winter wird zugesperrt, dann drehen die Kleingatrenbetreiber, gleichsam die Herren der Siedlungen, alles ab, auch das Wasser. Dann verliert der Ort rasch seinen Charme. In der warmen Jahreszeit jedoch ist alles wunderbar. In der ersten Reihe wohnt man quasi am Strand, und selbst aus der zweiten oder dritten Reihe sind es nur kurze Wege ans Wasser. Für die Pächter sind die Häuschen und Gärten im Sommer ein Fluchtpunkt aus der Großstadt. Gartenzwerge vor biederen Holzhütten gibt es in den Siedlungen ebenso wie stylish designte Architektenhäuser. Manikürtes Gras und wild wuchernde Stauden halten einander die Waage. Hier treffen nicht nur verschiedene Berufe, sondern auch unterschiedliche Denkwelten aufeinander. Doch die Bewohner der Stelzensiedlungen verstehen sich ganz gut. Kommt die Flut, sind sie aufeinander angewiesen. Man muss sich dann gegenseitig helfen, um nicht unterzugehen. Eine eigene App gibt es inzwischen, die Vorwarnungen schickt, wenn stromaufwärts in Oberösterreich der Pegel der Donau zu steigen beginnt.
Nur alle paar Jahre einmal ist es wirklich soweit, aber dann wird es ernst. Und immer wieder, nachdem ein Hochwasser die Gartenzwergidyllen zerstört, vielleicht hier und da sogar ein paar illegal am Erdboden errichtete Dusch- oder Stauräume geflutet und ein gehöriges Maß an Beschädigungen hervorgerufen hat, gibt es Traumhäuschen-Besitzer, die mit ihren Nerven am Ende sind, die nicht mehr wollen. Die beschließen dann, ihre persönliche Idylle zu verkaufen. Dann häufen sich die Inserate auf willhaben.at, dann kommt eine neue Welle, eine neue Generation von Städtern zum Zug. Die nur darauf gewartet hat, dass der Stelzenhaushäuschenmarkt wieder etwas hergibt. Die hier heraus wollen an die Peripherie und die übermäßig viel Geld zu investieren bereit sind, um sich ihre Mittelschicht-Sommerträume zu verwirklichen. Unter 200.000 Euro ist kaum einer der fragilen Bauten mehr erhältlich, vor knapp zehn Jahren, nach dem bislang letzten großen Donau-Hochwasser, war es noch nicht einmal die Hälfte.
Dann beginnt der Kreislauf des Schwimmens, Schifferlfahrens, des Grillens, des Schlammschippens und dann vielleicht irgendwann auch des neuerlichen, hochwasserbedingten Aufgebens wieder von neuem. +++