Corona-Pandemie und zunehmender Berufsstress brachten uns die Besinnung auf fast schon vergessene, umso nachhaltigere Werte zurück: Muße und Ruhe. Aussteigen kommt wieder in Mode – auf Zeit oder für immer. Und immer mehr Menschen drängt es aus der Stadt in Richtung Rückzugsorte am Land.
Es war Anfang Dezember 2016. Die Formel-1-Saison war soeben zu Ende gegangen und der kosmopolite Deutsche Nico Rosberg hatte sie gewonnen. Zum ersten Mal überhaupt, nachdem er in den Jahren davor nach Kräften gekämpft, viel geopfert und alles dem Ziel des Weltmeistertitels untergeordnet hatte. In der Limo auf der Fahrt zur großen Sponsor-Party unmittelbar nach dem Titelgewinn teilte der frischgebackene Weltmeister in der Königsklasse des Motorsports seinem Manager mit: Schluss, aus. Und trat zurück. Ein Schock für die Formel 1, die Weltpresse, die Sponsoren und die Fans. Aber offensichtlich die richtige Entscheidung für Rosberg, der leiser treten und der Familie nun Priorität einräumen wollte.
Sein Beispiel macht Schule. Wer genauer nachforscht, findet mittlerweile zahllose Fälle vor allem aus der Welt der Managements, in denen gestresste Menschen sich aus den Tretmühlen ihrer Alltage in beschaulichere Gefilde zurückziehen. In Bereiche, in denen dem Leben mehr und der Belastung weniger Platz gelassen wird. In Räume, wo es weniger ums Geldverdienen und mehr darum geht, wie die Seele an Reichtum gewinnen kann. Menschen, die sich zurückziehen und den monetären Wert stressbehafteter Prestige-Jobs gegen den mentalen Wert von Ruhe und Zufriedenheit tauschen, werden immer zahlreicher.
Aussteigen vom Knochenjob
Es gibt Wellenberge von Aussteigerstorys. Gute und schlechte, das Internet ist voll davon. Manche handeln von Menschen, die einfach nicht mehr wollten – siehe Formel-1-Fahrer Rosberg. Andere handeln von Menschen, die nicht mehr konnten. Beispiel aus Österreichs jüngere Vergangenheit: der nach nur wenig mehr als einem Jahr im Amt schon wieder zurückgetretene, schwer überlastete österreichische Gesundheitsminister Anschober.
Oder Rolf Brunner. Das deutsche Nachrichtenmagazin “Spiegel” widmete der Aussteiger-Ikone vor einiger Zeit wieder einmal eine Erwähnung. Unter seiner Führung lebten in den 1970er-Jahren die Bewohner der Sarakiniki-Bucht auf der griechischen Insel Íthaka als Kommune abseits jedes Alltags. Sie machten alle Höhen und Tiefen des Aussteigertums durch, denn das Leben abseits von Beschwerlichkeiten kann sich manchmal als höchst beschwerlich herausstellen. Die – kurioserweise als GmbH organsierte – Aussteiger-Communitiy stand mehrmals vor dem Aus. Aber es gibt sie noch, heute leben dort weniger Menschen als zu Beginn, dafür aber glücklich. Chefaussteiger Brunner vermietet mittlerweile, moderne Zeiten sozusagen, eine Hütte über AirBnB an Teilzeit-Aussteiger.
Eine andere Geschichte ohne Happy End: Christopher McCandless, der 1990 aus seinem US-Studenteleben in Atlanta aus- und in seinen alten Nissan einstieg, um einfach davon zu fahren, in Richtung neues Dasein irgendwo in der Wildnis, abseits der “Heuchelei des menschlichen Lebens”, wie er es nannte. Zwei Jahre später fanden Elchjäger seine Leiche in einem rostigen Bus in den Wäldern Alaskas. Der US-Autor Jon Krakauer schrieb einen Bestseller darüber, der später von Schauspieler und Regisseur Sean Penn verfilmt wurde.
Aussteiger-Turbo Corona
Gerade jetzt ist das Thema “Aussteigen” wieder in aller Munde. Der Sturm der Corona-Pandemie verleiht Rückzugsgedanken neuen Wert, beflügelt die Fantasie der Menschen, sich nach irgendwohin zurückzuziehen, wo es ungestörter, ruhiger, schöner, weniger problembehaftet ist. Wo sich statt Hamsterrädern Windspiele drehen, wo Blätter rauschen statt der Bluthochdruck. Experten kennen dieses Phänomen, dass sich Menschen immer dann, wenn das gesellschaftliche Zusammenleben in irgendeiner Form eng wird, nach alternativen Möglichkeiten umsehen, wie man sein Leben leben könnte: “Das sind Motive”, sagte etwa der deutsche Wirtschaftsjournalist Jan Grossarth dem Manager Magazin vor einiger Zeit in einem Interview, “die man seit 150 Jahren immer wieder beobachten kann”. Etwa der Wunsch nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit. Grossarth quittierte seinen Job bei einer großen deutschen Tageszeitung für einige Monate und schloss sich für die Recherche an einem Buch diversen Aussteigern an. Rückzug und die Konzentration auf sich selbst sind jedenfalls sehr alte Werte, die zwischendurch zwar manchmal in Vergessenheit geraten, aber in Wahrheit immer Saison haben.
Der Zug zum Rückzug hat erstaunliche Auswirkungen. In Österreich steigen wie überall seit Ausbruch der Pandemie die Immobilienpreise am Land dramatisch – weil alle aus der Enge drohender weiterer städtischer Lockdowns in die Weiten eigener Gärten und Häuser im Grünen ausweichen wollen. “Naturreiche Standorte am Meer und im Gebirge sind besonders begehrt”, schrieb jüngst der internationale Immobilienvermittler Engel & Völkers auf seiner Website. Die Investitionshürde könne mittlerweile bereits “sehr hoch liegen”. Der bisherige Trend zur Landflucht ist gerade dabei, sich umzukehren – zumindest temporär. Angebote von Almhütten, Landhäusern, Bootshütten und sonstigen ungewöhnlichen Immobilien fernab der Ballungsräume nehmen zu. Nicht selten zu horrenden Konditionen. Mehrere hundert Treffer listet das Portal willhaben.at derzeit unter dem Stichwort “Chalet” auf – vom Luxus-Hideaway bei Kitzbühel um viele Millionen bis zum Holzhäuschen im burgenländischen Thermenland um 200.000 Euro.
Aussteigen kostet
Aussteigen, das ist jedenfalls etwas, das sich hauptsächlich Besserverdiener leisten können. Zum einen kosten bequeme Zufluchtsorte Geld, zum anderen braucht man erhebliche Reserven, um ohne regelmäßiges Einkommen leben zu können. Natürlich gibt es – nicht selten schrullige – Varianten für Rückzüge ohne Geld. Immer wieder einmal suchen sogenannte “Eremitagen” Menschen, die sich in der Abgeschiedenheit des Nirgendwo um einsame Häuser kümmern, für mittellose Aussteiger oder gelangweilte Rentner ein Paradies. Die Gemeinde Saalfelden sucht immer wieder einmal einen neuen Eremiten für ihre berühmte Eremitage am Palfen. Doch das Leben dort oben über dem Ort ist mühsam. Auch stereotype Szenarien von lieblichen Kolonien auf griechischen oder anderen Inseln, in denen geliebt, gelebt, musiziert und gedarbt wird, entsprechen eher nicht der Realtität. Die Möglichkeit des Aussteigens ohne Geld mit einem Leben bloß von Luft und Liebe ist in erster Linie ein Gerücht. Als Faustregel gilt: Je mehr Bares man auf der hohen Kante hat, desto gepflegter kann man sich zurückziehen. Kein Wunder, dass sehr oft Manager aus hochdotierten Verträgen in eine Auszeit umsteigen. Oder Künstler, die gut verdient haben. Oder Erben, die vom Studienabschluss in Betriebswirtschaft oder Jus direkt auf alternatives Alpakazüchten am Land umsatteln. Und so weiter. >>>
Luxuriös und stylish: Zwei Tipps für die Teilzeit-Auszeit
1 Eremito Hotelito del Alma: Der stylishe Rückzugsort in der spirituellen Atmosphäre eines alten umbrischen Klosters hat was – kostet aber auch. Des “Eco-Luxury-Resort” bietet temporären Aussteigern karge Klosterzellen auf Zeit, sogenannte “Celluzze”, um zu sich selbst zu finden. www.eremito.com
2 Tainaron Blue Retreat: Ein uralter Turm in der Mani-Region ganz unten an der mittleren der drei Zacken des Peloponnes, auf luxuriöse Weise einfach gestaltete Räume und reduzierte Spitzengastronomie – hier ist Aussteigen edel, hochwertig und natürlich auch teuer. Optimal für überarbeitete Manager, die einmal für ein paar Wochen raus wollen. www.tainaron-blue.com
>>> Für Menschen in normalen Einkommensverhältnissen ist der Umstieg in den Ausstieg oft schon allein aus finanziellen Gründen problematisch. Die Website “Karriere-Bibel” definiert Aussteiger als “Menschen, die radikal mit ihrem bisherigen Leben brechen, die Normen und Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ablehnen und eine andere Form des Lebens probieren”. Das geht schlecht, wenn man über wenig finanzielle Ressourcen verfügt. Die Lösung kann unter bestimmten Umständen heißen: Teilzeit-Ausstieg. Ein halbes Jahr auf einer Alm oder auf einem Bauernhof lässt sich leichter finanzieren. Auch zum kleinen Ferienhäuschen, das man womöglich sogar noch vermieten kann, wenn man es selbst nicht benützt, reicht es schneller als zur kompletten Landwrtschaft in der Abgeschidenheit.
Wie auch immer – immer mehr Menschen haben genug vom Alltag in Tretmühlen und wählen ganze oder auch teilweise Ausstiege aus ihrem Stress-Leben. Oder träumen zumindest heimlich davon. Und entdecken dabei den neuen Wert alter Werte. Fragen Sie in stillen Augenblicken einmal in Ihrem Bekanntenkreis herum, Sie werden sehen … +++
Sechsmal Aussteigen für das kleine bis mittlere Budget
Variante 1 – Rückzug in den Wohnwagen: Die günstigste Version des Aussteigens: einen Wohnwagen auf einem Dauercampingplatz abstellen und das Leben zumindest in der warmen Jahreszeit genießen. Tausende Österreicher praktizieren das. Nach Stellplätzen herrscht enorme Nachfrage, um die Salzkammergut-Seen herum etwa ist kaum mehr was zu bekommen. Und die Kosten? Günstige gebrauchte Wohnwägen in gutem Zustand gibt es zuhauf, die Stellgebühren pro Jahr halten sich im Rahmen. Mit besser ausgestatteten Gefährten ist sogar Wintercamping eine Option. Ressourcen-Bedarf: ab 15.000 Euro
Variante 2 – Parttime-Ownership: Eine intelligente Möglichkeit für den wiederholten Ausstieg auf Zeit: eine von professionellen Betreibern gemanagte Ferienimmobilie kaufen, welche die meiste Zeit des Jahres vermietet wird und Geld zurück ins Portemonnaie spült. Die man aber auch selbst für kleinere Auszeiten zwischendurch wochen- oder monatsweise nutzen kann und während dieser Zeit dann eben auf Rendite verzichtet. Anbieter solcher Modelle, oft große Hotelketten, werden immer zahlreicher und tummeln sich in allen Preisklassen – von Fernost über Südamerika bis Österreich. Auch am Mittelmeer finden sich gute Optionen. Ressourcen-Bedarf: ab 150.000 Euro
Variante 3 – in See stechen: Der Feuchttraum vieler Aussteiger – ein Segelboot kaufen, die Weltmeere bereisen. Vor allem in der Pension erfüllen sich Paare gern diesen Traum vom großen Schwapp ums nächste Kap. Man sollte allerdings Segeln können – das hochseetauglich zu lernen kostet Zeit und Geld. Yachten sind außerdem auch gebraucht nicht günstig und man sollte sich mit Booten auskennen. Hat man sein Ziel endlich erreicht, benötigt man in der Folge Glück – denn auf Hoher See ist man in Gottes Hand, die Auszeit kann schnell zum Albtraum mutieren. Ressourcen-Bedarf: ab 300.000 Euro
Variante 4 – Rückzug ins Almchalet: Chalet-Dörfer in den Bergen sind derzeit der große Hit. Kaum eine Tourismusregion, in der nicht versucht wird, alpine Holzhäuschen in die Gegend zu stellen und an den Mann oder die Frau zu bringen. Man benötigt in der Regel einen feisten finanziellen Background, will man sich ein schönes Almhütterl zulegen. Nach oben hin sind kaum Grenzen gesetzt, die Sache kann schnell in den Millionenbereich expandieren. Alte Almhütten gibt es natürlich billiger, aber durch die pfeift dann nicht selten der gandenlose Winterwind, was der Auszeit schnell jeden Charme raubt. Ressourcen-Bedarf: ab 350.000 Euro
Variante 5 – auf den Hof ausweichen: Der eigene Bauernhof soll es sein, ein wenig Viehzucht zumeist inkludiert. Der Trend zu Tier, Stall und Hof bricht sich gerade erst so richtig Bahn. Verlassene Gehöfte sind nicht schwer zu finden. Problem: Renovierungen sind teuer und man benötigt einiges an Drumherum. Die wenig liberale Gesetzeslage in Österreich schreibt außerdem vor, dass landwirtschaftlicher Grundbesitz nur von Landwirten erworben werden darf – außer die Bezirksgrundverkehrskommission gibt ihr Okay. Die Lösung: Immer mehr Landwirte bieten “Auszeit am Bauernhof” für eine bestimmte Zeit als touristische Möglichkeit an – Mitarbeit ohne Honorar inklusive. Ressourcen-Bedarf: ab 500.000 Euro
Variante 6 – arbeiten auf der Alm: Günstigeres Aussteigen geht nicht: Man heuert auf einer Almhütte an und arbeitet über den Sommer als Senner oder Sennerin beziehungsweise bewirtschaftet eine Hütte. Auf dem Webportal www.almwirtschaft.com sind immer wieder Stellen ausgeschrieben. Oder man wählt überhaupt gleich die große Version – und pachtet eine Almhütte. Am besten beim Alpenverein unverbindlich nachfragen (www.alpenverein.at). Immer wieder stehen Hütten zur Neuverpachtung an. Nur Vorsicht – das Leben als Wirt auf der Alm kann durchaus anstrengend sein. Wer sich vom früheren Job ohnehin schon überlastet fühlt, sollte sich so etwas dreimal überlegen. Ressourcen-Bedarf: ab null Euro +++